Die Meisterwerke eines Einsamen

Morton Bartlett (1909-1992), ein Werbefotograf und Grafikdesigner aus Boston, war zu Lebzeiten nicht berühmt. Jetzt ist er es, zumindest teilweise. Der Hamburger Bahnhof zeigt noch bis zum 23. September 2012 sein eigentümliches Lebenswerk, das gänzlich privat und hinter verschlossenen Türen entstanden ist. Bartlett, der als Kind verwaist ist, hat mit 27 Jahren damit angefangen, halblebensgroße Kinderpuppen zu basteln. Gänzlich allein und mit höchster Detailversessenheit hat er unzählige Hände, Köpfe, Füße und Beine aus Gips und Ton geformt, in akribischer Feinarbeit bunte Kleidchen genäht und Perücken geknüpft. Anschließend hat er die Einzelteile zu verschiedenen Puppen zusammengebaut, diese in lebensechte Situationen gesetzt, beleuchtet und fotografiert.

Morton Bartlett, ohne Titel, 1950er JahreFast 30 Jahre lang ist Bartlett, der sein Leben lang alleine gelebt hat, diesem merkwürdigen Hobby nachgegangen – bis er eines Tages plötzlich damit aufgehört hat. Anfang der 60er Jahre hat er für einen Umzug alle Puppen in Zeitungspapier gewickelt, jede einzeln in eine selbstgebastelte Holzkiste gepackt und samt der Fotografien in seiner neuen Wohnung im Südende von Boston verstaut. Erst nach seinem Tod im Jahr 1992 erfuhr die breite Öffentlichkeit von dieser eigentümlichen Sammlung des Puppenmachers, der keine Ausbildung hierfür hatte. Marion Harris, eine New Yorker Kunst- und Antiquitätenhändlerin, hat seinen Nachlass 1993 auf einer Antiquitätenmesse entdeckt und bekannt gemacht.

Bartlett wollte die Puppen so naturidentisch wie möglich gestalten. Dabei hat er sich mit Hilfe von Anatomiebüchern und Kostümgeschichten ans Werk gemacht. An den Details hat er sehr lange gefeilt und allein an einem Tonkopf über 50 Stunden modelliert. Für eine ganze Puppe hat er ein volles Jahr gebraucht. Insgesamt 15 vollständige Kinderpuppen sind überliefert, zwölf Mädchen und drei Jungen. Dazu gibt es noch eine Menge Zeichnungen, bunte Kostüme und filigrane Einzelstudien zu Händen, Füßen, Ohren und Köpfen. Sie sind auch in der Ausstellung zu sehen, fein säuberlich aufgereiht in einer gläsernen Tischvitrine. An ihnen kann man deutlich sehen, wie sehr sich der Modellierer an Variationen von Gesten und Körperenden abgearbeitet hat. Gespenstisch lebendig werden die Kinderpuppen in den 200 schwarz-weiß Fotografien, die allesamt in der Ausstellung zu sehen sind. Sie dokumentieren, wie der seltsame Schöpfer seinen Wesen in nachgestellten Alltagssituationen Leben eingehaucht hat.

Morton Bartlett, ohne Titel, 1950er JahreHäufig sind es emotionsgeladene Kinderzimmer-Situationen, die Bartlett geschaffen und abgelichtet hat. Bestechend authentisch hat er hier das Innenleben an die tote Oberfläche der Puppenkörper transportiert. Er hat ein weinendes Baby in einem Kinderbett derart meisterlich getroffen, dass man das Schreien regelrecht hören kann. Auch das Mädchen, das mit angsterfülltem Blick vor einer bemalten Wand steht, lässt die Schrecksituation für den Betrachter fassbar werden. Zwischendurch sieht man aber auch Mädchen mit gespreizten Beinen und lasziven Blicken, Nacktposen und Szenen im Lolita-Style. Hier wirkt Bartletts Hinterlassenschaft noch unheimlicher, als sie ohnehin schon ist. Waren die Puppen für ihn Objekte der Begierde? Das ist nicht eindeutig zu beantworten.

Tatsächlich würde jedoch eine bloß psychologisierende Lesart der Qualität des außergewöhnlichen fotografischen Werks nicht gerecht werden. Bartletts Fotos faszinieren in ihrer meisterhaften Lichtzeichnung und dem kenntnisreichen Variationsspiel von Kleidung, Körperform, Pose, Gesichtsausdruck, Blick und Geste. Ungewollt ist Bartlett mit seinen hinterlassenen Körperstudien zum Vorreiter der inszenierten Portraitkunst geworden. Niemand Geringeres als die US-amerikanische Künstlerin Cindy Sherman, die sich in ihren berühmten Fotoserien konzeptionell mit Fragen der Identität und Rollenbildern auseinandersetzt, zählt zu den Sammlerinnen der Fotos Morton Bartletts.

Die Ausstellung im Hamburger Bahnhof ist die erste Ausstellung in Deutschland, die sich Bartletts Gesamtwerk widmet. Sie ist die dritte Ausgabe der Reihe “Secret Universe”, einem Ausstellungsformat, das sich den Außenseitern der Kunstwelt widmet – und bietet diesmal einen außergewöhnlichen Blick in die Kabinette eines seltsamen, einsamen Meisters der Portraitkunst.

(Fotos © Courtesy of Marion Harris, New York)

„Secret Universe III, Morton Bartlett“ noch bis zum 23. September 2012 im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50-51, Berlin-Mitte. U-Bahn: Naturkundemuseum. Geöffnet Dienstag bis Freitag und Sonntag 10-18 Uhr, Samstag 10-20 Uhr. Eintritt: 12 €, ermäßigt 6 €.