Knapp 500 Kilometer sind es von Berlin bis nach Kattowitz. Mindestens einmal im Jahr lohnt es sich, die Reisestrapazen auf sich zu nehmen und der polnischen Großstadt einen Besuch abzustatten. Denn bereits zum siebenten Mal fand hier das Tauron Nowa Muzyka (TNM) statt – das Festival mit wohl einem der besten Line-Ups des Jahres im Bereich der elektronischen Musik.
Bevor das eigentliche Festival am Freitagnachmittag eröffnet wurde, lockte eine Pre-Party der ganz besonderen Art bereits am Donnerstagabend die ersten Massen in die Galeria Szyb Wilson. Der Klaviervirtuose und selbsternannte ‚Worst MC‘ Chilly Gonzales hatte sich das polnische Aukso Orchester geschnappt und legte mit seiner Show die Latte für das restliche Festival sehr hoch. Die Mischung aus klassischen Piano-Klängen, wie sie auf Gonzales‘ aktuellem Album vorherrschend sind, und wahnwitzigen Rapeinlagen mit orchestraler Untermalung ist in dieser Form sonst wohl kaum zu finden. Gonzales wurde seinem Ruf als einer der besten kanadischen Entertainer wieder einmal gerecht: Er gab dem Publikum einen Crash-Kurs in Musiktheorie, zeigte sein Können an den Bongos, fügte sich irgendwie eine übel blutende Wunde im Gesicht zu und verführte das Orchester zu einem wahnwitzigen Billie Jean-Knightrider-Another bites the dust-Toxic-Mashup.
Im Gegensatz zu den vorherigen Ausgaben fand das Festival dieses Jahr in der Parkanlage Doliny Trzech Stawów statt – ein perfektes Festivalgelände. Fünf Bühnen, die man locker innerhalb weniger Minuten wechseln konnte, um möglichst viel vom grandiosen Line-Up mitzubekommen. Das erste Highlight am Freitagabend war der Auftritt von Sepalcure. Das Duo bestehend aus Machinedrum und Praveen Sharma spielte gut gelaunt und unterstützt von famosen Visuals auf und ließ sich selbst in dem Moment nicht aus der Ruhe bringen, als zwei übermotivierte Fans die Bühne enterten und zwischen den beiden Musikern herumhüpften, bis sie sanft von den Sicherheitskräften entfernt wurden. Wenig später heizte Gnucci dem Publikum vor dem Red Bull Tourbus ordentlich ein. Die Schwedin hat anscheinend irgendwann das Banana aus ihrem Künstlernamen entfernt und überzeugte mühelos mit ihrem Electro-Rap à la Azealia Banks oder Amanda Blank. Kontrastprogramm kurz danach auf der Red Bull Music Academy Stage: Der Londoner L-Vis 1990 spielte ein im Vergleich zu seinem funky angehauchten Album eher basslastiges, zweistündiges DJ-Set, das Leute und Tanzfläche wortwörtlich zum Beben brachte.
Um 1:00 Uhr dann endlich – der kurze Regenschauer hatte sich gerade rechtzeitig verzogen – der Headliner des Abends: Hot Chip betraten die Main Stage, reihten Hit an Hit und spätestens bei „Over and Over“ tanzte auch die letzte Reihe. Der einzige Wehrmutstropfen an diesem Abend: Die Überschneidung der Auftritte von Hot Chip und John Talabot. Der Spanier spielte zur gleichen Zeit eine charmante Version seiner Tracks auf der Academy Stage. Direkt im Anschluss daran legte Scuba auf. Gewohnt regungslos und im schwarzen Pulli gekleidet beballerte er die Tanzfläche mit einem Technoset, das sich gut dazu eignete, um sich die Zeit bis zu Jimmy Edgars Live-Auftritt zu vertreiben. Der Produzent aus Detroit hatte sich zuvor die Sepalcure-Show angeguckt und zeigte nun, dass er es mindestens genauso gut drauf hatte, die Menschen zu begeistern. Mit wippenden Jackenkragen und dunkel gehaltener Bühnenbeleuchtung feierte Edgar nach kurzer Aufwärmphase sich und das Publikum. Den Abschluss der langen Nacht bildete Rustie. Nach kurzer Verzögerung aufgrund technischer Probleme haute der bubihaft anmutende Schotte den scheinbar nicht müde zu kriegenden Leuten seine Dubstep-Beats um die Ohren.
Der Samstag wartete ebenfalls mit mehreren Highlights auf. Begleitet von einem unglaublich kitschigen Sonnenuntergang bespielten die vier norwegischen Electrorocker von 120 Days die Main Stage. Mit nordischer Lässigkeit performten sie Songs aus ihren beiden Alben und animierte damit das viel zu klein geratene Publikum zu frühabendlichen Ausrasten. Frontmann Ådne Meisfjord machte sich besonders schnell Freunde: Er holte eine halbgeleerte Wodkaflasche auf die Bühne, teilte sie erst mit seinen Bandkollegen und verschenkte den Rest dann an die in den ersten Reihen Feiernden. Später am Abend wurde ein Bogen zum Donnerstag geschlagen. Denn schon wieder waren klassische Orchesterinstrumente auf der Bühne zu finden – diesmal in Form des Brandt Brauer Frick Ensembles aus Berlin, das wie gewohnt mit seiner Variante des Acoustic-Techno überraschte und selbst den hartgesottensten Electrolover zum Violinen-Liebhaber machte. Auf der Main Stage spielten wenig später Mouse On Mars. Wer zarte Klänge suchte, war hier definitiv falsch am Platz: Die Vertreter von Monkeytown Records setzen auf Lightshow, ohrenbetäubendes Drumsgewitter und eine energetische Performance.
Das TNM 2012 überzeugte mit einem fantastischen Line-Up, das genau die richtige Balance zwischen großen Namen und mehr oder weniger geheimen Geheimtipps fand. Ein schönes, übersichtliches Gelände und faire Preise sorgten dafür, dass niemand sich unnötig ärgern musste. Langatmige, langweilige Programmpausen gab es keine; jeder der beschäftigt werden wollte, konnte etwas finden – sei es auf der BLN.FM-Bühne, bei den verstreuten Kunstprojekten oder einfach an einem der zahlreichen Versorgungsstände. Man sollte die nächsten Ausgaben des Festivals genießen, der große Hype lässt sicher nicht mehr lange auf sich warten…