Alice im Drogenland

Heroin Kids. Foto: Corinna Engel und Christian Kaiser

Letztes Jahr im Sommer brachten die Fotografen Corinna Engel und Christian Kaiser mit ihrem Projekt „Heroin Kids“ die öffentliche Stimmung zum Brodeln. Halbnackte Lolitas, Heroin, Prostitution waren ein Dreiklang, der bei vielen deutschen Institutionen, inklusive der Justiz, die Alarmglocken läuten ließ. Kommentar der Bayerischen Landesanstalt für neue Medien: „entwicklungsbeeinträchtigend“ und „sozialethisch desorientierend“. Es folgte ein Prozess wegen „Gefährdung Minderjähriger“. Der Prozess ist nun gewonnen, die beiden Künstler widmen sich einem neuen Projekt. Doch könnte es erneut knallen: Christian und Corinna wollen noch krassere Bilder.

Spritzen und Sex - Lieblingsthemen von Corinna Engel und Christian Kaiser. Foto: Corinna Engel und Christian Kaiser Der Arbeitstitel des neuen Projektes heißt „Wild Flowers“. Corinna Engel versichert, dass das Thema „natürlich das gleiche wie bei ‚Heroin Kids'“ bleibt und dass es um „Schönheit, Anmut und Zerbrechlichkeit, aber auch um Drogen, Sex, Gewalt, Jugend, Nacktheit, Prostitution“ gehen wird. Weiter sagt sie gegenüber BLN.FM, die Bilder spiegelten „eine kaputte Welt, Jugend zwischen Sehnsucht nach dem Unbekannten, Grenzüberschreitung und Naivität“ wider. Wie bereits bei „Heroin Kids“ sind auch die Hauptdarstellerinnen von „Wild Flowers“ Berliner Mädchen. Ihr Bezug zu Berlin habe sich durch ihren Umzug in die Großstadt verstärkt, sagt Corinna. Berlin verbinde sie mit einem besonderen „Flair von Freiheit“, in keiner anderen deutschen Stadt würden so viele Drogen genommen und vertrieben.

Die Mädchen auf Corinna Engels und Christian Kaisers Fotografien wirken entrückt und sind in ihrer Verwahrlosung doch auffallend lasziv. Man könnte sie als Bestandteil einer Kunstwelt verstehen, in der es primär nicht um das Leiden Heroinabhängiger geht, sondern um eine ästhetisch fragwürdige Koketterie mit dem Rausch. Inszenierung ist die Methode, mit der die Künstler provozieren. Das sieht dann so aus wie im Trailer zu ihrem Projekt „Heroin Kids“.

Nicht jeder kann nachvollziehen, dass die Künstler das als schön empfinden. Viele fragen sich, ob es in Ordnung ist, solche Bilder quasi kritiklos zu veröffentlichen. Christian und Corinna sind von der eigenen Kunst verständlicherweise begeistert. Bock auf Pädagogik und Erklärung, die sie beispielsweise hinter Larry Clarks Werk vermuten, haben sie keinen. Die im Trailer mit lyrischem Text unterlegten Elendsbilder riskieren die Verherrlichung bewusst. Und wo Verherrlichung ist, ist auch Nachahmung nicht weit.

Das Problem der medialen Thematisierung von Selbstmorden bezeichnet der umstrittene „Werther-Effekt„. Die nach Goethes Buch „Die Leiden des jungen Werther“ benannte Theorie geht davon aus, dass Berichterstattung über Selbstmord zu weiteren Selbstmorden in der Bevölkerung führt. Wer nun harten Drogenkonsum als Selbstmord auf Raten auffasst, könnte sich eben auf diesen Effekt berufen und die Künstler in der Verantwortung sehen. Andererseits ist dieser Effekt nicht belegt. Außerdem sichert Artikel fünf des Grundgesetzes die Freiheit der Kunst. „Im Zweifel für den Angeklagten“, dachte sich die Justiz, und Engel und Kaiser durften eifrig weiterknipsen.

Eine konkrete Ausstellung zu „Wild Flowers“ ist noch nicht geplant. Die Suche nach passenden Ausstellungsmöglichkeiten ist nicht leicht, weil viele Galerien sich nicht trauen, Engels und Kaisers Arbeiten zu zeigen. Von einer Ausstellung abhalten wird das die Künstler nicht. Corinna Engel sagt dazu: „Ausstellungen sind natürlich noch mal ganz was anderes als ein Bildband im Format 30 x 30 cm oder Fotos im Internet. Fotografien gehören meiner Meinung nach wirklich lebensgroß ausgestellt, teilweise haben wir ja auch 2 x 3 Meter große Bilder. Also ja, wir wollen unbedingt ausstellen und bleiben da auch dran. Ich bin guter Dinge, dass auf die ‚Heroin Kids‘-Ausstellung die nächste folgen wird!“

Das komplette Interview, das Agata Waleczek mit Corinna und Christian in ihrer Wohnung in Berlin-Wedding geführt hat, hier zum Nachhören:

http://soundcloud.com/bln-fm-interviews/interview-mit-corinna-engel