Alfredo Jaar: Realität ist relativ

Von 1973 bis 1990 ließ das Pinochet-Regime in Chile über 3000 Menschen verschleppen. Der US-Geheimdienst, verwickelt in den Menschenrechtsverletzungen in dem südamerikanischen Land, prägte für diese Verbrechen den Begriff „missing“: die Menschen „fehlten“, sie verschwanden einfach. „Missing“ waren die Menschen aber in einer anderer Hinsicht. Als sich der chilenische Künstler Afredo Jaar in den 1970ern zum ersten Mal in den USA aufhielt, stellte er fest, dass Nachrichten von den Verbrechen in Chile fehlten. Die Medien nahmen keinerlei Notiz davon. Sein Kunstwerk “Missing II” (1982) weist auf diese Doppelbedeutung hin: auf einer Weltkarte markierte Alfredo Jaar die politischen Entführungen. So machte er sichtbar, dass das Wort “missing” nicht nur die Verbrechen beschönigend beschreibt, sondern ebenso dafür steht, dass bestimmte wichtige Nachrichten nicht stattfinden.

Alfredo Jaar: Selbstporträt. Foto: Alfredo JaarAuch in anderen Installationen und Aktionen behandelte Jaar über mehr als vier Jahrzehnte politisch brisante Themen. Er beobachtete, wie Medien mit dem Widerstand gegen Unterdrückung und Gewalt umgehen. Dabei interessierte ihn, wie Nachrichten in Bilder und Schlagzeilen verarbeitet werden, wie Themen verschwinden und umgeformt werden. Die Werkschau „Alfredo Jaar – The Way It Is. Eine Ästhetik des Widerstands“ zeigt an gleich drei Standorten in Berlin die Ergebnisse aus vier Jahrzehnten künstlerischer Produktion: in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, der Berlinischen Galerie und der Alten Nationalgalerie.

Der Übertitel der Gesamtausstellung bezieht sich dabei auf Projekte, die der zweifache documenta-Teilnehmer Alfredo Jaar in den frühen 1990ern in Berlin umsetzte. 1991 installierte er auf den Stufen des Pergamon-Altars in Neonschrift die Namen von Städten, in denen Gewalt gegen Ausländer verübt worden war. Das zweite Projekt war die temporäre Installation „The Way It Was“, die der Künstler 1991 in einer unbewohnten Berliner Erdgeschosswohnung schuf.

Was ist Glück? In einer Diktatur ist diese Frage eine Provokation

Die Kreuzberger Neue Gesellschaft für Bildende Kunst erinnert an die „Studies on Happiness“, mit denen Alfredo Jaar Anfang der 1970er geschickt die Zensur des Pinochet-Regimes in Chile umging. In einem Kartell des Schweigens fragte er schlicht: „Sind Sie glücklich?“ Auf der Straße interviewte er mithilfe von Fragebögen Menschen zum Thema „Glück“ und stellte anschließend die Ergebnisse in Diagrammform öffentlich aus. Dadurch entwickelte sich die scheinbar harmlose Frage zu einem Slogan, Plakate tauchten im Straßenbild Chiles auf (siehe Bild oben).

Was Jaar während seiner gesamten künstlerischen Karriere besonders beschäftigte, ist die Frage, welche Themen von Journalisten behandelt werden und warum. So stellte er mit Zeitschriften-Covern eine Chronik der öffentlichen Aufmerksamkeit zusammen. In „Real Pictures“ verstreut er zehntausende Dias über einen Leuchttisch. Darauf befinden sich furchtbare Motive, die kurz nach dem Genozid an der Volksgruppe der Tutsi in Ruanda entstanden sind. Jaars Methode des „Nicht-Zeigens“ besteht darin, diese furchtbaren Details nicht plakativ im Großformat auszustellen, sondern die Überflutung der Medienredaktionen mit den grauenhaften Bildern zu thematisieren. Diese Arbeiten über die Verwertung von Katastrophen und Schicksalen in den Massenmedien sind in der Berlinischen Galerie zu sehen.

In der Alten Nationalgalerie ergänzen zwei Installationen die Ausstellung. „1+1+1“ entstand für die documenta 8 (1987) und brachte Jaar den internationalen Durchbruch. „Persona“ hingegen, aus dem gleichen Jahr, ist bisher noch nie gezeigt worden. Ergänzt wird die Ausstellung durch eine Vortrags- und Gesprächsreihe in NGBK und Berlinischen Galerie.

Alfredo Jaar: „The Way It Is. An Aesthetics of Resistance“, monografische Ausstellung in sechs Werkgruppen, zeitgleich in drei Berliner Institutionen: