Matthias Lilienthals „Unendlicher Spaß“

Sonntag, 3. Juni. Morgens, circa vier Uhr. Ich sitze auf einem harten Plastikstuhl bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Das weiße Licht der Leuchtstoffröhren erhellt Gesichter, die alle danach aussehen, als würden sie dringend Hilfe benötigen. „Hi my, name is Brian and I am an alcoholic“, stellt sich der Redner hinter dem Mikro vor. „Hi Brian!“ antwortet die Gruppe. Brian war professioneller Footballspieler, bevor er Alkoholiker wurde. Ich kämpfe gegen die Müdigkeit an, aber bei diesem fiesen Licht kann ich nicht einschlafen und der Plastikstuhl ist auch nicht wirklich bequem.

Aber so geht es den meisten „Anonymen Alkoholikern“ im Raum, denn sie sind, wie ich, bereits seit 18 Stunden unterwegs. Dieses Treffen ist Teil der Inszenierung „Unendlicher Spaß“ die unter der Leitung von Matthias Lilienthal neben der „Weltaustellung“ seine Zeit als Intendant des Theater „Hebbel am Ufer“ abschließen wird. Es ist der Versuch, das Buch „Infinite Jest“ (Deutscher Titel: Unendlicher Spaß) von David Foster Wallace zu inszenieren. An acht Orten gibt es 15 Performances die sich jeweils einem Teil des über 1500 Seiten starken Romans widmen.

Mit einem Doppeldeckerbus werden wir zur vorletzten Station gefahren, dem Finanzamt Reinickendorf. Dort komme ich gar nicht erst in die Versuchung einzuschlafen, denn ein Esel und eine Kleenexpackung begrüßen uns schreiend, krakeelend und Knallfrösche schmeißend mit „MEGA! SUPER!“. Endlich erfahre ich mehr darüber, wie die rollstuhlfahrenden „Assassins des Fauteuils Roulants“, kurz A.F.R, planen in den USA die Originalkassette des Filmes „Unendlicher Spaß“ zu erobern. Denn dieser Film ist tödlich. Wenn man ihn anschaut, werden alle anderen Bedürfnisse von einem einzigen überdeckt: den Film nochmal zu schauen. Essen, Trinken oder Schlafen spielen keine Rolle mehr, nur der Film ist wichtig. Es ist das Werk des Regisseurs James O. Incandanza, des Gründers der Enfield Tennisakademie.

Bei der Inszenierung von „Unendlicher Spaß“ befindet sich die Tennisakademie auf dem Gelände des „LTTC Rot Weiß“ in Grunewald und dort habe ich Tags zuvor um zehn Uhr früh eine kleine Einführung in den Roman von Wallace erhalten, der permanent zwischen Zeiten und Orten hin und her springt, ebenso wie wir als Zuschauer es nun auch tun. In dem Tennisclub gibt es zwei Inzenierungen. Nach einer kurzen Mittagspause schauen wir ein „Tennismatch“, das die Theatergruppe Gobsquad im Steffi-Graf-Stadion als kleines verbales Feuerwerk abbrennt. „Myself“ spielt gegen „Myself“ und muss Stellung beziehen zu Themen wie Aggression oder dem Freiheitsbegriff von Nietzsche. Schiedsrichter ist natürlich „Myself“. Wer jetzt auf die Idee kommt, dass die restlichen 20 Stunden ebenso verwirrend werden könnten liegt richtig. Und schon geht’s weiter zum nächsten Ziel: dem Teufelsberg.

Die Fahrten verbinden die Spielorte miteinander und sind das einzige Manko. Denn sie holen mich jedes mal wieder in die Realität zurück. Ich habe Zeit, mich mit meinem Nachbar zu unterhalten und werde per Lautsprecher darauf hingewiesen, welche architektonischen Besonderheiten links oder rechts zu sehen sind.

Auf der nächsten Station, dem Ennet House Drug and Alcohol Recovery House werden in zwei Räumen drei Inszenierungen gezeigt. Danach habe ich mir die Pause für das Abendessen verdient. Aber viel Zeit zum Ausruhen bleibt nicht. Es geht weiter zum David Foster Wallace-Center, wo eine Livekonferenz mit dem Übersetzer des Buches, Ulrich Blumenbach, ansteht. Dort kann der Theatergänger seinen Wissensdurst über das Buch oder seine Hintergründe stillen, denn er kann ihn einfach dazu befragen. Ein großartiger Einfall, denn es ist der perfekte Einstieg für die Leute, die sich statt des 24 Stunden-Tickets ein 12 Stunden-Ticket gekauft haben und jetzt erst dazukommen. Hier erfahre ich auch, wie komplex und verwirrend der Roman ist. Er fängt mit dem chronologischen Ende an und hört in der Mitte auf, besser hätte man es nicht inszenieren können.

Es folgen zwei weitere Stationen. Als wir beim Fontane-Haus ankommen, ist es nach Mitternacht und Müdigkeit macht sich breit, nicht nur bei mir. Aber die Stücke dort können dieses Tief mühelos überbrücken. Entweder durch die „fiese“ Arbeit mit Videokameras oder die großartige Alleinunterhalter-Show über Poor Tony Krause und seinem Drogenentzug, dem Höhepunkt der Nacht und der 24-stündigen Inszenierung, bis ich, völlig fertig, zum Treffen der Anonymen Alkoholiker gehe…

Die nächsten Termine sind: 13., 16., 20., 23., 27. Juni

24h-Ticket: 50€, ermäßigt 35€; 12h-Ticket: 35€, ermäßigt 25€

S-Bahn: Grunewald, oder Campus Benjamin Franklin (S-Bahn: Botanischer Garten)