Wie Sie sehen, sehen Sie nichts!

1986 Privatbesitz, courtesy m Bochum Kunstvermittlung © Qiu Shihua, Foto: Eric Jobs

Wir leben in einer Welt des Reizüberflusses. Turnschuhe, Werbung, Clubbesuche – vieles ist bunt, schrill, leuchtet oder blinkt. „Leere“ ist zu einem Begriff geworden, der nur noch einen emotionalen Zustand beschreibt, keine gegenständliche Erscheinungsform. Klar, dass Qiu Shihuas Malerei da aus dem Rahmen fällt. Denn wer vor seinen Bildern steht, sieht zunächst einmal nichts. Erst nach einer Weile formen sich auf den weißen Leinwänden Landschaften heraus. Bäume, Berge und Seen zeichnen sich langsam ab. Alles scheint von einem dicken, weißen Schleier bedeckt zu sein. Menschenleer und einer Traumwelt ähnlich.

Die Ausstellung „Qiu Shihua. White Field“ im Hamburger Bahnhof zeigt noch bis zum 5. August einige Bilder des namensgebenden Künstlers. Shihua wurde 1940 in der chinesischen Provinz Sichuan geboren und studierte traditionelle chinesische Malerei an der Kunstakademie Xi’an. Durch Reisen nach Europa kam er in Kontakt mit der westlichen Kultur, die, ebenso wie das Gedankengut des Taoismus, sein Schaffen prägte. Die Philosophie des Taoismus ist bestimmt von Wiederholung und Leere, Prinzipien, die sich in Shihuas Kunst abzeichnen. Für Shihua aber ist die Leere nichts Belastendes und Schwermütiges: „Ich will die Leere weder zeigen, noch habe ich Angst vor ihr. Die Leere ist nämlich das Eigentliche, das Wahre. Die Welt selbst ist wie ein leerer Raum. In diesem leeren Raum befindet sich alles.“

Qiu Shihua o.T., 1996 Galerie Urs Meile, Beijing-Lucerne © Qiu Shihua, Foto: Galerie Urs Meile, Beijing-Lucerne

Neben jüngeren Arbeiten zeigt die Ausstellung auch Bilder aus den 1970ern, was Besuchern ermöglicht, die Entwicklung des Malers nachzuvollziehen. Während Qiu Shihua anfänglich, wenn auch sehr zurückhaltend, Farben benutzte, nähern sich seine neueren Werke immer mehr der Grenze zum Nichts an. Trotz der vermeintlichen Leere sind die Leinwände in gewissem Sinne lebendig: Je nachdem, wie sich der Betrachtende zum Bild positioniert, erscheinen manche Teile deutlicher und verschwimmen andere. Fast scheint es, als flimmerten die Leinwände. Schatten werden plötzlich so detailliert, dass man meint, jeden einzelnen Grashalm erkennen zu können. Im nächsten Moment schon sind alle Details wieder verschwunden.

Auch wenn die Grenze zwischen Kitsch und Kunst hier und da schwer zu ziehen ist: Qiu Shihua setzt sein ästhetisches Konzept auf faszinierende Art um. Es lohnt sich also durchaus, in den nächsten Wochen im Hamburger Bahnhof vorbeizuschauen.

„Qiu Shihua. Weißes Feld“, noch bis zum 5. August 2012 im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50-51, Berlin-Mitte. U-Bahn: Naturkundemuseum. Geöffnet Dienstag bis Freitag und Sonntag 10-18 Uhr, Samstag 10-20 Uhr. Eintritt: 12 €, ermäßigt 6 €.