Am Anfang steht die Melodie. Erst spielt das ganze Orchester, dann die einzelnen Register: Blechbläser, Holzbläser und Streicher. Auf einer Schallplatte wird kindgerecht erklärt, wie der Komponist Benjamin Britten seine Werke aufgebaut hat. Die knisternde Musikstunde ist das Erste, das wir in Wes Andersons neuem Film „Moonrise Kingdom“ zu hören bekommen – und natürlich läuft sie auf einem türkisblauen, tragbaren Plattenspieler, einem der unzähligen merkwürdigen Details in Andersons durchkomponierten Nostalgiewelten.
Dieses Mal erzählt der Regisseur und Autor eine jugendliche Liebesgeschichte, selbstredend eine seltsame. Der nerdige, viel zu erwachsene Pfadfinder Sam brennt mit der tief in pubertären Depressionen steckenden, nonchalanten Suzy durch. Sam raucht Pfeife und macht eine Inventarliste ihres gemeinsamen Zeltlagers, Suzy leidet mit stillem Genuss und nimmt den türkisblauen Plattenspieler ihres Bruders mit auf die Flucht. Obwohl sie vom Rest der Welt zunächst nicht vermisst werden, macht man sich doch irgendwann auf die Suche nach den Ausreißern. Der Pfadfinderführer (Edward Norton), der Gemeindepolizist (Bruce Willis), Suzys Eltern (Bill Murray und Frances McDormand) sowie Frau Jugendamt (Tilda Swinton) spielen Katz und Maus auf einer fiktiven, quasi isolierten und halbwegs unberührten Insel vor der amerikanischen Ostküste.
Wie immer ist Bill Murray mit dabei, ebenso Jason Schwartzman, der schon in Andersons Filmen „Rushmore“ und „Darjeeling Limited“ Hauptrollen spielte. Und auch sonst finden wir in „Moonrise Kingdom“ das komplette, seinen Fans lieb gewonnene Inventar des Andersonschen Kosmos‘: Frühreife Kinder, lakonische Erwachsene, eigenartige Kommunikationsmittel (Megaphone und eine antike Telefonzentrale), Tagebücher als Erzählstruktur aus dem Off, Briefe in Kinderhandschrift und Autoritätsstrukturen mit übereifrigen Adjutanten. Dazu reichlich Zigarettenrauch und stilsicher eingerichtete Häuser mit viel Holz und Leder, ungewöhnliche Kamerawinkel und Montagen. Die Dialoge sind messerscharf, die begleitende Blues- und Folkmusik passt perfekt.
Wer für Anderson schwärmt, dürfte wissen, was gemeint ist: Seine Filme spielen stets in zeitlich entrückten Paralleluniversen, die genauso gut den 1960er-Jahren wie den verschwommenen Kindheitsfantasien ihres Schöpfers entspringen könnten. Oder beidem. Alles dort hat seinen Platz, jeder Gegenstand, jede Figur, jedes Wort und jede Melodie – jede Kameraeinstellung birgt die Harmonien und Dissonanzen des gesamten Films in sich, ohne dass man ihr dies sofort anmerkt. Immer wieder schafft Anderson damit einen dichten cineastischen Kokon, in den sich die Zuschauer mit Vergnügen einspinnen lassen können. Und genau darin liegt Andersons Romantik, denn die brutale, unpoetische Außenwelt hat keinen Platz in diesem Mikrokosmos.
So fügt sich auch der siebte Langfilm des Texaners nahtlos in die fest verschworene Gemeinschaft seiner Vorgänger ein und bereichert diese um eine weitere Facette von Andersons Americana. Seine Filme sind so amerikanisch wie nur denkbar – und gleichzeitig so ungewöhnlich, überraschend und klischeefrei mit ihrem nostalgischen, provinziellen und selbstsicheren Charme. Schließlich trifft es die musikalische Ebene auf den Punkt, wenn sie am Anfang und am Ende des Films erklärt, wie die einzelnen Register zu einem Orchester zusammenwachsen. Und wenn die Lehrplatte erläutert, dass Variationen bloß „verschiedene Arten sind, dieselbe Melodie zu spielen“, kommentiert sie Andersons Werk damit wohl wissend auf der Metaebene. „Moonrise Kingdom“ ist eine weitere, virtuose Variation desselben Themas, vielleicht weniger farbenfroh und opulent wie seine Vorgänger, doch wie immer durch ein hervorragend abgestimmtes Ensemble mit brillanten Solisten orchestriert – und einem inspirierten Komponisten und Dirigenten in Personalunion.
„Moonrise Kingdom„, Komödie, USA 2012, ab 24. Mai in den Kinos