In der Neuköllner Oper läuft seit Mitte März und noch bis Ende April die Operette „Berliner Leben“, eine Adaption des Stücks „Pariser Leben“ von Jacques Offenbach. Um statt der französischen die deutsche Hauptstadt besingen zu können, ersetzten Hendrik Müller (Idee und Regie) und Kriss Rudolph (Text) die Charaktere Offenbachs durch schräge Berliner Gestalten, unter anderem durch einen szenekundigen Dealer und eine transsexuelle Clubkönigin. Und schon können die Verwicklungen losgehen.
Dem schwedischen Baron mit Gattin, die in Offenbachs Original die Hauptrollen innehaben, entspricht in der Berliner Version ein reiches ukrainisches Ehepaar: während Alexej (Clemens Gnad) geschäftlich in der Stadt ist, möchte seine Frau Natascha (Sarah Papadopoulou) was erleben. Zusammen fallen sie auf den Szene-Helden Omar (Janko Danailow) herein, der ihnen seine WG in einem maroden Neuköllner Altbau als High-End-Erlebnis-Hotel verkauft. Um die Täuschung perfekt zu machen, beruft Omar kurzerhand einen „Wirtschaftsgipfel“ für den geschäftstüchtigen Ukrainer in seinem Wohnzimmer ein. Eine „illustre Runde“ aus Omars Freunden, die sich als Wirtschaftsführer ausgeben, ziehen dem nichtsahnenden Alexej das Geld aus der Tasche. Eine Putzfrau in der Rolle der Berliner Wirtschaftssenatorin „verkauft“ ihm etwa den Fernsehturm.
Wie es sich gehört, werden die Geschäfte mit reichlich Wodka begossen. Nach einer Weile artet das Meeting daher zu einer Orgie aus. Diese Szene ist der Höhepunkt des Stücks und versinnbildlicht die ganze Aussage: Berlin ist aufregend, liberal, kreativ, arm – und vor allem so unglaublich sexy. Das Stadtmarketing hätte es nicht besser ausdrücken können und bekommt mit diesem Stück eine kostenlose Werbekampagne, die das Mantra von der Feier-Hauptstadt kritikfrei herunterleiert: Wie geil ist es, hier zu sein; das muss mit reichlich Alkohol begossen und mit der einen oder anderen Nase beschnupft werden. Dazu verlautbaren fröhliche Bierzeltlieder Lebensweisheiten der Sorte, dass „Trinken ohne Trinkspruch Trinksucht ist“.
Die Bühnenlieder nehmen mehr und mehr volkstümliche Ausmaße an und verleiteten das Publikum gekonnt dazu, fröhlich mitzuklatschen. Dabei vergisst es offenbar, dass viele etwas beklatschen dürften, was eigentlich gar nicht in ihr moralisches Weltbild passt. Ein Phänomen, welches jeden Marketingexperten zu Freudensprüngen veranlassen würde. Barbara Rucha sorgt mit ihrer Musik allerdings für einen eher versöhnlichen Aspekt des Abends. Das Instrumentenspektrum reicht vom Akkordeon über das Klavier bis hin zu Wassergläsern.
Insgesamt trifft der Zuschauer des „Berliner Lebens“ auf ein Stück, zusammengesetzt aus einer schier endlosen Wiedergabe von Plattitüden, deren einzige Rettung Ironie gewesen wäre. Doch an jener mangelt es eindeutig; lediglich die Körpersprache der Schauspieler vermag Spuren davon hervorblitzen zu lassen. Dabei bewegen sich die Schauspieler übrigens auf einer drehbaren Scheibe, die wohl verdeutlichen soll, dass sich in dieser Stadt was bewegt. In erster Linie ist sie jedoch treffendes Symbol für den Kater nach dem Rausch, bei dem sich immer noch alles dreht. Oder dafür, dass so manche Gedanken um nur einen einzigen Aspekt einer aufregenden Stadt kreisen können.
„Berliner Leben“ in der Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131-133, Berlin-Neukölln. U-Bhf. Karl-Marx-Straße oder S-Bhf. Neukölln. Vorstellungen: 20., 21. und 22. sowie 26. und 27. April 2012, jeweils 20 Uhr. AK: 9,- bis 24,- €.