Der Raketeningenieur Boris Mikhailov ist bereits 28 Jahre alt als er für eine Reportage seiner Arbeit erstmals einen Fotoapparat in die Hand gedrückt bekommt. Schnell findet der gebürtige Ukrainer auch privat Gefallen an der Fotografie. Er macht Aktfotos. In der prüden Sowjetunion teilt man seinen Sinn für Ästhetik nicht. Der der Hobbyfotograf wird bald wegen Nacktfotos seiner Frau verurteilt, woraufhin ihm sein Arbeitgeber kündigt. Mikhailov entscheidet sich, sein Leben der Kunst zu widmen – der Startschuss für eine Karriere als sozialkritischer Fotograf fällt. Die Berlinische Galerie präsentiert bis Ende Mai die bisher erste, umfassende Ausstellung des ukrainisch-jüdischen Fotokünstlers.
Die Themen für gute Motive müsse man „auf der Strasse“ suchen, sagt Mikhailov dem Deutschlandradio im Februar dieses Jahres im Interview. Der Künstler portraitiert den Alltag der Bürger zunächst als stiller Beobachter des sozialistischen Systems. Heute kennt man ihn als gesellschaftskritischen Dokumentaristen. Er verbindet Dokumentation mit konzeptueller Kunst. Die daraus entstehenden Fotoserien wirken durch ihre Direktheit fast aufdringlich: Mikhailov übt Gesellschaftskritik, indem er Menschen fotografiert, die am Rande stehen, den Bodensatz der Gesellschaft. Er führt vor, wie die postsowjetische Gesellschaft zerfällt und welche brutale Not die Menschen zu der Zeit ereilte. In seinen „Krankengeschichten“ tauchen Geschwüre und Verstümmelungen aller Art auf. Menschen, die auf der Strasse leben, Prostituierte, körperlich Entstellte. Die Bilder zeigen sie oft nackt, mit ihren inneren und äußeren Wunden – individuelle Spuren, die das Leben hinterlassen hat. Mikhailov zeigt die Not und die Verletzlichkeit derer, die von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Er zeigt, was viele Menschen lieber ignorieren wollen. „Erst wenn man das Elend im Bild sieht, beginnt man es auch auf der Straße wahrzunehmen“, erklärt er im Künstler-Portrait auf arte. Erst wenn man das Elend thematisiert, hören die Menschen auf, ihre Augen davor zu verschliessen. Diese schonungslose Dokumentation der Verelendung ist sein Mittel, den Leuten die Augen zu öffnen. Seine Fotografien polarisieren, sei es durch pornografische Tendenzen oder durch die Zurschaustellung körperlicher Behinderungen. Er fotografiert exakt das, von dem unsere Eltern uns als Kinder immer gesagt haben, dass wir da „nicht so hinstarren“ dürfen – er begeht Tabubruch.
Seine Arbeiten können deshalb durchaus als bildliche Sozialstudien gewertet werden. Sie leisten einen – nicht unwichtigen – medientheoretischen Beitrag, weil seine Schock-Fotos der Ignoranz entgegenwirken. Das macht ihn zu einem der wichtigsten Dokumentaristen der ehemaligen Sowjetunion, dessen Werke durch zahlreiche Fotopreise ausgezeichnet worden sind. Auf die Frage des Monopol Magazins, ob er sich eher als Sozialdokumentarist oder als Ästhet sieht, antwortet er: „Ich erachte mich auf überhaupt gar keine Art und Weise!“
Wer auf Kosten des Elends der Welt Berühmtheit erlangt, muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, seine Karriere auf dem Rücken seiner Motive aufbaut zu haben – den Menschen, denen er angeblich helfen will. Doch den Vorwurf der Ausbeutung seiner Modelle weist er strikt zurück. „Time Is Out Of Joint“ ist eine schockierende Werkschau, die einen Einblick in die vielfältige Arbeiten des Fotografen gewährt – von seinen fotografischen Anfängen bis hin zu seine letzten, in Berlin entstandenen Arbeiten. Ob seine Werke nun dokumentarisch oder inszeniert, schön oder hässlich, verspielt oder schonungslos, voyeuristisch oder nicht sind, kann der Besucher noch bis zum 28. Mai in der Berlinischen Galerie für sich entscheiden.
Boris Mikhailov “Time Is Out Of Joint” – Fotografien 1966-2011, Fotokunstausstellung, bis zum 28. Mai 2012, täglich (außer Dienstag) von 10 bis 18 Uhr, Tageskarte 8,-€/ermäßigt 5,-€ und jeden ersten Montag im Monat 4,-€, freier Eintritt bis 18 Jahre, Berlinische Galerie, Alte Jakobstrasse 124-128, Berlin-Kreuzberg, Bus M 29: Lindenstr./Oranienstr.