Gier frißt Hirn


Im Jahr 2006 bekommt Klaus Stern, seines Zeichens preisgekrönter Dokumentarfilmer, einen Anruf von einem Freund: „Klaus, du glaubst nicht, was mir grade passiert ist! Ich habe eben deinen nächsten Film gesehen!“ Der Freund arbeitete in einem Kino in Kassel, das als Veranstaltungsort für die Firma MEG diente. Er war der Anstoß zum Dokumentarfilm „Versicherungsvertreter“, ein Portrait über den „Ausnahmeunternehmer“ Mehmet E. Göker aus Kassel. Das Ergebnis ist eine gleichermaßen gesellschaftskritische, aber auch unterhaltsame Realsatire, die sich in Zeiten der Finanz- und Eurokrise heraus nimmt, die Strukturen der deutschen Wirtschaft einmal genauer zu durchleuchten.

„Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“ ist das Lebensmotto von Mehmet E. Göker, das neben Portraits seines Vaters, Mahatma Gandhi und Milliardär Richard Branson über dem Schreibtisch hängt. Es ist das Motto, das den leidenschaftlichen Verkäufer dazu antrieb, sein eigenes Versicherungsimperium zu schaffen. Im Alter von nur 30 Jahren hatte er bereits die Führung über 1000 Mitarbeiter. Erfolgsrezept: ein Betrieb muss geführt werden „mit der Organisation, der Ordnung, dem Fleiss und der Disziplin der ehemaligen Sowjetunion. Streng, hierachisch und straff.“ Seine Firma MEG macht er zu einem Lebensstil. Der Erfolg scheint ihm Recht zu geben. Mit seinem Charisma kriegt er sogar ehemalige Neonazis dazu, für ihn – einen Deutschtürken – zu arbeiten.


Im Herbst 2009 muss die MEG Insolvenz anmelden. Am Ende bleiben 50 Millionen Euro Forderungen offen. Mehmet Göker blickt auf diese Ereignisse mit Gelassenheit zurück. Auch wenn sich heutzutage scheinbar alle gegen ihn verschworen haben, mangelt es ihm bei seinen Erzählungen nicht an Humor und einer gewaltigen Portion Selbstironie, aber auch Selbstgefälligkeit: „Die Ermittlungen laufen seit 2006 und gehen somit ins sechste Jahr. Sechs Jahre – das muss man sich mal vorstellen! Was soll ich denn dazu sagen? Ich wünsche euch noch viel Spaß beim Ermitteln!“ Göker ist gut gelaunt bei der Filmvorführung im Kreuzberger Sputnik-Kino.

Weder in den über 40 Stunden Material, das Klaus Stern gedreht hat, noch im Film selbst kommen „Opfer“ Gökers zu Wort. Spricht man Klaus Stern beim Filmscreening darauf an, grinst er frech und entgegnet: „Ich bin eher an der Täterperspektive interessiert. Ich wollte keinen Beitrag produzieren, der mit Opferberichten ausgeschmückt wird. Nein, ernsthaft. Natürlich haben wir recherchiert, aber ganz ehrlich: Es fühlt sich so recht gar niemand als ‚Opfer‘ von Mehmet Göker oder irgendwie sonst persönlich von ihm angegriffen.“

Stern will seine Dokumentationen nicht nur reine Portraits verstanden wissen. Durch die Auswahl seiner Protagonisten, bisher allesamt männlich und mit extremen Persönlichkeitsmerkmalen ausgestattet, versucht er den Zeitgeist unserer kapitalistischen Gesellschaft zu dokumentieren. Mit seinen Arbeiten möchte Klaus Stern aber auch „zeigen, dass „eine Person nicht nur ’so oder so‘ ist“, wie er nach der Vorführung sagt, sondern zeigen, dass die Handlungen jedes Menschen aus vielen Perspektiven gesehen werden können. In diesem witzig aufgemachten Portrait Gökers beobachtet Stern die Entwicklung seines Protagonisten sehr genau und erzählt so eine Geschichte von Gier und Größenwahn, die auch als Warnung zu verstehen ist. Eine unterhaltsame Realsatire. Faszinierend, absurd und unglaublich sehenswert.

Versicherungsvertreter – der Film; Dokumentarfilm; Deutschland 2011; Regie: Klaus Stern; Deutschland 2011;  79 Min., ab 08.03. 2012 u.a. im Sputnik(Höfe am Südstern), Hasenheide 64, Berlin-Neukölln,  U-Bahn: Südstern und  Tilsiter Lichtspiele, Richard-Sorge-Str. 25a, Berlin-Friedrichshain, U-Bahn: Frankfurter Tor