Der Außenseiter ist sein liebstes Studienobjekt. Der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee beschreibt ihn in seinen Büchern mit brutalem Einfühlvermögen. Das ist seine Art, die schrecklichen Zustände, die unter Südafrikas Apartheids-Regime herrschten, zu verarbeiten. Aber schon William Shakespeare gab dem Außenseiter in seinen Tragödien eine Bühne. Nun hat der polnische Regisseur Krzystof Warlikowski die Geschichten dreier Anti-Helden aus berühmten Shakespeare-Dramen herausgelöst und sie mit Texten von Coetzee versehen. Das Ergebnis heißt „Afrikanische Erzählungen nach Shakespeare“ und ist mit einer Spieldauer von stolzen 240 Minuten ein Panoptikum menschlichen Andersseins und existenzieller Grenzerfahrungen von Wagnerschem Ausmaß. Das Stück ist zu sehen beim Festival Internationale Neue Dramatik 2012 in der Schaubühne.
Dabei greift Warlikowski tief in die Trickkiste des zeitgenössischen Theaters, um menschliche Abgründe, innere Zerrissenheit und Perversion darzustellen. Seine Schauspieler vom Neuen Theater in Warschau treibt er so zu Höchstleistungen an. Da muss sich der desillusionierte Anwalt Antonios aus dem „Kaufmann von Venedig“ schonmal rohes Fleisch herunterzwingen, um es danach dem betroffenen Theaterpublikum vor die Füße zu würgen. Die permanente Darstellung von Fast-Sex und Nacktheit sind da eigentlich kaum noch erwähnenswert. Ist das nun wirklich immer nötig? Um Triebhaftigkeit und sexuelle Begierde plakativ auf die Bühne zu bringen, sicherlich.
Das Bühnenbild dient hier als Multiplikator des Geschehens. Plexiglas, Spiegelwänden und nackter Beton stehen für die tiefen Gräben zwischen den Charakteren und deren Isolation. Coetzee drückt dies mit der dichten Sprache seiner Dialoge aus. Die Monologe hingegen sind poetisch und bildreich.
Hier liegt die Schwäche dieser Produktion: das Konzept ist ziemlich verkopft, ohne Vorwissen seitens der Zuschauenden lassen sich die Zusammenhänge nicht herstellen. Shakespeares Klassiker sollte man wenigstens in ihren Umrissen kennen. Man muss wissen, dass Shylock der verbohrte jüdische Geldverleiher aus „Der Kaufmann von Venedig“ ist, der die Christen hasst, weil sie ihn verspotten; der eisern auf Recht und Gesetz beharrt, als er seine vertraglich gesichertes Rechte auf ein Pfund Fleisch aus dem Leib des verhassten Kaufmanns Antonio geltend macht. Warlikowski zeigt das „Opfer“ aus Shylocks Perspektive: er ist nur einer der triebhaften Heuchler, die Schweinemasken tragen, und es sich grunzend lachend gegenseitig besorgen.
Sex spielt auch bei Warlikowskis Adaption von „Othello“ eine große Rolle: Neider des schwarzen Feldherrn nutzen seine Eifersucht, entzweien ihn und seine Geliebte Desdemona und mobben ihn zum Außenseiter. Im Zorn ermordet er seinen vermeintlichen Nebenbuhler, blutverschmierte Geister verkörpern in dieser Produktion seine Schuldgefühle.
Und dann haben wir noch „König Lear“. In Warlikowskis Version wird er durch seine Töchter in ein Altenheim abgeschoben. Nur die jüngste, zuvor von ihm verstoßene Tochter nimmt ihn wieder bei sich auf. Am Krankenbett brechen die Peinigungen ihrer Kindheit aus ihr hervor. Er sagte, dass eine Frau nur ein Loch sei, das zum ficken da sei. Der Kehlkopfkrebs hat ihn nun ein Loch in den Hals gefressen, nun könne man ihn ebenso ficken: „Man könnte in deinen Hals abspritzen und du würdest an dem Sperma ertrinken.“
Es sind diese Extreme zwischen Poesie und Radikalität, die dieser polnischen Produktion seine ganz besondere Faszination verleihen. Mit den Worten Coetzees gibt Regisseur Warlikowski den 500 Jahre alten Klassikern ein neues, grelles Gesicht: Hass, Rache und Zuneigung, dieses Brodeln im Inneren, das Allzumenschliche, haben sich über die Jahrhunderte nicht geändert.
F.I.N.D. vom 1. bis 11. März an der Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153, Berlin-Charlottenburg, U-Bahn: U 7 bis Adenauerplatz, S-Bahn: Charlottenburg, Halensee, Bus: M 19, M 29 bis Schaubühne/Lehniner Platz
(alle Fotos Schaubühne Promo)