Die durch das ACTA-Abkommen provozierten Demonstrationen sind vermutlich der vorläufige Höhepunkt einer seit mehreren Jahren geführten öffentlichen Debatte um den Zusammenhang von geistigem Eigentum und Kreativität, Urheberrecht und Online-Piraterie. Vor nicht allzu langer Zeit ist in dem mittlerweile nach Berlin umgesiedelten Suhrkamp-Verlag ein Buch herausgekommen, das zwar schon letztes Jahr verfasst wurde, aber gerade nach den Protesten gegen ACTA eine äußerst aktuelle und lohnenswerte Lektüre für alle an diesem Thema Interessierten darstellt.
Geschrieben hat es Dirk von Gehlen, seines Zeichens Chefredakteur des Jugendformats der Süddeutschen Zeitung jetzt.de. „Mashup. Lob der Kopie” versteht sich als Streitschrift für einen „digitalen Umweltschutz”, will endlich aufräumen mit begrifflichen Unklarheiten wie dem „geistigem Eigentum” oder der unsäglichen Kampfparole „Raubkopie”. Der Autor macht dafür die Form zum Inhalt und setzt auf diese Weise schon das erste Statement. Das Buch entfaltet sich als äußerst buntes Mashup aus Zitaten, Anekdoten, Fakten, Interviews und Songtexten, mixt ganz ohne Berührungsängste Goethe mit Soulwax und Lionel Messi und will damit vor allem zeigen: Kultur und Wissen sind stets Kombinationen aus Vorhandenem oder Übertragungen aus anderen Kontexten: Neues entsteht nicht aus dem Nichts, sondern baut immer auf Vorgängern auf. Geniehafte Schöpferpersönlichkeit? Creatio ex nihilo? Nix da, Kultur ist Kopie und Kopie ist Kultur!
Denn unsere binär kodierten Begriffe vom famosen Original und dessen schäbiger Kopie sind lediglich Zuschreibungen und damit soziale Konstruktionen. Einerseits liegt es im Auge des Betrachters und bleibt damit eine subjektive Entscheidung, ob ein Kunstwerk als originell, interessant oder gar genial wahrgenommen wird. Andererseits entstanden die allgemeinen Auffassungen vom „Original” oder „musikalischen Werk”, wie sie heute gebräuchlich sind, erst durch Erfindungen wie dem Buchdruck oder der Notenschrift. Eine Unterscheidung zwischen Original und Kopie war bis dahin überflüssig, weil eine eindeutige Autorschaft sowieso kaum zugewiesen werden konnte: Wissen und Musik waren weitgehend mündlich überliefertes, verstreutes Allgemeingut, das erst mit dem Buch- und Notendruck verschriftlicht, aufbereitet und verbreitet wurde. Für Bildung, Wissenschaft und Künste wurden tiefgreifende Verbesserungen möglich, da die nun schriftlich vorhandenen Informationen leichter verfügbar waren. Mit der Verfügbarkeit von digitalen Inhalten, die sich dank Copy & Paste und schnellen Internetverbindungen so einfach wie nie zuvor vervielvältigen und streuen lassen, befinden wir uns heute an einem ähnlichen Wendepunkt, an dem über die veränderten Rahmenbedingungen von Urheberrecht und Verwertung gesprochen werden muss. Das ACTA-Abkommen führt uns jedoch deutlich genug vor Augen, dass ein taumelnder, aber immer noch mächtiger Klüngel aus Politik- und Kulturindustrie gerne den Weg diktieren möchte, der vor allem der Verwertung und Verlegung von medialen Produkten dient, kaum aber den konsumierenden oder gar den kreativen Köpfen.
Von Gehlens Buch kann daher auch als ein leidenschaftliches Plädoyer für eine breit geführte, längst überfällig gewordene Debatte um die angemessene Verwertung von digitalen Inhalten gelesen werden. „Mashup” gibt einem genügend Beispiele und Argumente an die Hand, um für diese hitzige Debatte einen kühlen Kopf zu bewahren, hätte an manchen Stellen aber gerne etwas mehr Biss vertragen können. Der Begriff der Kopie dient von Gehlen als zentrales Stichwort, indem er versucht ihn zwischen einer kreativen und einer vagabundierenden Kopie zu differenzieren. Sampling, Collage, Mashup, Cut-Up, Remix, Version, Zitat, Medikamentengenerika: Auch wenn von Gehlen aufpassen muss, dass er nicht alle Konzepte in einen Topf schmeisst und sich diese zu einem postmodernen Mischmasch verrühren, die kreative Kopie bleibt für ihn das zeitgemäße Konzept einer von Prosumenten dominierten Welt, in der die Grenze zwischen Konsumenten und Produzenten nicht mehr eindeutig gezogen werden kann. Ein gutes Beispiel dafür sind die derzeitig im Netz kursierenden Collagen im Stile von “What it really is”, die stets dem gleichen Schema folgen und doch meist eine neue, individuelle Pointe enthalten. Sie gehen spielerisch mit dem Umstand um, dass sie niemals ein Original sondern allenfalls eine mehr oder weniger witzige Weiterentwicklung ihrer bekannten Vorgänger sein können. Aus dem nahezu mühe- und kostenlos gewordenen Akt des Copy & Paste entsteht so durch das Offenlegen der Bezüge, der Übertragung auf einen neuen Kontext und dem Hinzufügen eines individuellen Elements eine „kreative Kopie”.
Statt der von der Musik- und Filmindustrie installierten Parole der „Raubkopie” („Hometaping is killing music”, „Raubkopierer sind Verbrecher”) schlägt von Gehlen den gemäßigteren Begriff der vagabundierenden Kopien vor. Selbstverständlich kann er mit diesem theoretischen Begriffsvorschlag nicht die generelle Problematik von Online-Piraterie lösen. Der Begriff der „vagabundieren Kopie” verweist aber zumindest auf die diffus gewordene Verantwortung unserer digitalen Alltagswelt, in der wir uns an die bequeme Verfügbarkeit einer Unmenge aktueller Kinofilme, unveröffentlichter Musikstücke oder gecrackter Software gewöhnt haben. Gleichermaßen wird auf die nach wie vor ungeheure Kluft zwischen schöpferischer Arbeit, dem Vertrieb, der Verwertung und den Konsum von digitalen Inhalten aufmerksam gemacht. „Mashup” kann daher interpretiert werden als eine Streitschrift gegen die Zementierung der aktuellen, problematischen Urheber- und Verwertungsrechte durch ACTA. Es ist schwungvoll und, wie es sich für Streitschriften gehört, mit Pathos geschrieben und an vielen Stellen durchaus unterhaltsam. Es unterstreicht seine Aktualität durch das umfangreiche Glossar, in dem alle derzeit wichtigen Begriffe kurz und bündig erklärt werden, zeigt sich als sehr zugänglich für alle Interessierten und auch für diejenigen, die bisher von Piraten und Piraterie eher unbeeindruckt blieben.
Dirk von Gehlen: Mashup. Lob der Kopie, edition suhrkamp 2011, 233 Seiten, 15,- Euro.