Kristalle, Computer und das Chaos

Ein Raum mit einem großen Arbeitstisch in der Mitte. Es liegen Kabel darauf, Kupferdrähte, Spindeln, Wattebeutel und verschiedene Brocken und Splitter aus Kristall. Dazwischen stehen Flaschen mit Kleber und Essig, leere Gehäuseteile von Computern, auch ein Verstärker ist dabei und ein paar elektrische Leitungen verschwinden im Wirrwarr. Überall riecht es metallisch, und das sogar so sehr, dass man das Metall auf der Zunge schmecken kann.

Dieser Raum ist das temporäre “Crystal World Open Laboratory”  und befindet sich im Kunstraum Bethanien. Die Künstler Martin Howse, Jonathan Kemp und Ryan Jordan haben dort in einem fünftägigen Workshop während des CTM.12-Festivals gemeinsam mit mehreren Teilnehmern Rohstoffe aus alten, ausrangierten digitalen Geräten gewonnen. Derzeit sind die Ergebnisse der Bastelarbeit an Ort und Stelle zu sehen.

Schon im Design der Mikrochips steckt Big Brother

Sie nehmen vor allem die Mikroebene der Materialien unter das Mikroskop, erklärt uns Martin Howse. Die Künstler untersuchen dabei Halbleiterkristalle, die aus Siliziumverbindungen bestehen und die als Basismaterial in allen Chips von Computer bis Waschmaschine Anwendung finden. Die konventionelle Industrie designt und fabriziert diese Kristalle so, dass so gut wie kein Spielraum für Zufall bleibt und jeder Kommunikationsweg radikal reduziert ist. Denn in der binären Computerwelt der Nullen und Einsen ist Effizienz und Vorhersagbarkeit entscheidend. Doch in dieser Reduktion liegt nicht nur praktischer Nutzen, sondern auch Gefahr, sagen die Künstler. Die Kontrollierbarkeit ist die Grundlage dafür, dass Datenflüsse komplett erfasst und ausgeleuchtet werden können. Diese Nano-Ebene setzt sich auf viel höherer Ebene fort. Nach Howse driftet die gesamte digitale Technologie derzeit mehr und mehr in Richtung einer absolut kontrollierten Ordnung und schränkt damit in der letzten Konsequenz alle freie Entwicklung, alles Leben und die Zukunft ein.

Umdesign der Kristalle als Ausweg

Die drei Künstler versuchen im „Crystal World Open Laboratory“ diese geschlossene Umwelt digitaler Kalkulationen zu durchbrechen und wiederzubeleben. In einem ersten Schritt werden den gebrauchten Computern, Notebooks und anderem Elektroschrott die wertvollen Rohstoffe entnommen. Mit Schraubenziehern und Schraubstöcken geht das Team ans Werk, um an die wertvolle Hauptplatine mit Gold, Silber, Palladium und Silizium heranzukommen. Das ist noch nicht so schwer, die zweite Stufe, der Weg bis zum “reinen” Gold, ist viel anstrengender und nicht ungefährlich. Bei starker Hitze, mit Filtern und chemischen Lösungsmitteln isolieren die De-Kristallisierer die wertvollen Metalle – und setzen sich dabei den giftigen Prozessen der Rohstoffgewinnung aus, die tagtäglich in vielen Teilen der Welt Menschen die Existenz sichert.

Der magische Klang der Kristalle

Anschließend werden die Materialien wieder re-kristallisiert. Aus dem gewonnenen Kupfer baut die Gruppe neue Transistoren zusammen, mit denen sich Radiowellen empfangen lassen. Auch der Kristall spielt hier eine Rolle. Nach mehreren Sekunden Knacken, Rauschen und Fiepen tönt der Trailer vom “Deutschlandfunk” aus kleinen Boxen, an deren anderen Kabelende ein Kristallsplitter als Empfänger geklemmt ist. Dieser Kristall stammt aus der eigenen Zucht im Kristallgarten, der im angrenzenden Ausstellungsraum besichtigt werden kann. Auf drei Podesten sammeln sich dort mehrere Gläser und andere Gefäße mit unregelmäßig gewachsenen Kristallfäden und -türmen in unterschiedlichen Größen und Farben. Dieser Anblick läßt die unendliche Formvielfalt und Magie erahnen, die in den Rohstoffen unserer digitalen Technik zu eigen ist – wenn man ihr nur Raum gibt.

Insgesamt bietet das „Crystal World Open Laboratory“ im Kunstraum Bethanien den seltenen Anblick des unverarbeiteten Innenlebens der digitalen Kommunikationstechnik. Wer die Versuchsanordnungen im Detail ansehen will, kann die Dokumentation des Workshops auf der Homepage studieren. Für alle, die das Metall schmecken wollen, die Werkzeuge sehen wollen und durch den bunten kleinen Kristallgarten wandeln wollen, empfiehlt sich noch schnell ein Besuch im Kunstraum Bethanien. Die Materialien sind dort noch bis zum 19. Februar zu sehen – eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

„Crystal World Open Laboratory“, bis zum 19. Februar im Kunstraum Bethanien, Mariannenplatz 2, Berlin-Kreuzberg. Öffnungszeiten täglich 12 bis 19 Uhr, Eintritt frei.