Empört verlangten einige Kinobesucher bei der Vorstellung ihr Geld zurück: Ein Film ohne Ton im Zeitalter von iPad und Special Effects-Bombast! „Das ist kein Kino, das ist eine Frechheit!“ Also bekamen sie den Eintrittspreis erstattet und gingen frustriert nach Hause. Schade eigentlich, denn „The Artist“ von Michel Hazanavicius, 2012 nominiert für zehn Oscars, hat viel zu bieten.
Der Stummfilm ist sein Leben. Gemeinsam mit seinem Hund Jack erobert George Valentin (Jean Dujardin) in den fiktiven Zwanziger Jahren dieses Films die Leinwände und Herzen seiner Fans. Die Presse liebt ihn, die Frauen vergöttern ihn. Noch. Die Ära des Stummfilms befindet sich auf ihrem Höhepunkt. Doch Filmkenner wissen: Die Erfindung des Tonfilms steht kurz bevor und damit der Absturz der Stummfilm-Stars. George bemerkt von alledem zuerst nichts, fördert sogar noch die bezaubernde Peppy Miller (Berenice Bejo), die ihm erst sein Herz, dann seine Show stiehlt. Er verliert seinen Job, sie wird als aufkommender Star des Tonfilms engagiert. Die Liebesgeschichte der beiden ist die Basis für einen Film, der nichts dem Zufall überlässt, sondern präzise durchgeplant ist. Schnitt, Musik, Schauspiel, Szenenbild – alles sitzt. Schließlich, so der Regisseur, sei das Publikum heutzutage anspruchsvoller. Die Rechnung ging auf. Allein in Frankreich stürmten 78.000 Besucher am ersten Tag ins Kino und katapultierten „The Artist“ auf Platz 1 der Charts.
Als in der Einstiegsszene das Publikum klatscht und die begeisterten Rufe der Zuschauenden nur zu sehen sind, nicht aber zu hören, ahnt man, dass dieses Kinoerlebnis ungewöhnlich sein wird. Für hohe Schauspielkunst mit aussagekräftiger Gestik und Mimik griff Hazanavicius zu einem ungewöhnlichen Mittel: Er spielte am Set Musik von Hollywoodfilmen der 1940er und 1950er Jahre und sorgte sogar für laute Kamerageräusche. Schließlich war es auch für seine Crew der erste Dreh ohne Tonspur. Auch der Tanz wird zum Stilmittel. Mühelos schlüpfen die Protagonisten ab und an in die Tanzschuhe von Fred Astaire und Eleanor Powell, sind dennoch keine Tänzer sondern Schauspieler.
Der Hauptdarsteller Jean Dujardin ließ sich von Stummfilmen von Douglas Fairbanks leiten und zeigt, dass allein gutes Mienenspiel viele komische Momente hervorrufen kann. Doch je später der Film, umso trübsinniger und grauer wird der desillusionierte George. Gleichzeitig nehmen graue Schattierungen im Film zu. Dafür trickste der Regisseur und drehte in Farbe. Nur so war eine perfekte digitale Nachbearbeitung des Filmmaterials möglich. Schwarz sollte rabenschwarz sein, weiß in voller Reinheit strahlen. So überließ der Regisseur nichts dem Zufall und ging dennoch recht subtil vor.
Nicht nur der Hauptdarsteller und die Farbkomposition durchlaufen eine Verwandlung. Nach und nach werden in „The Artist“ Tonelemente eingeführt. Schließlich, fast am Ende, das erste Wort: „Perfekt!“ Irgendwie wirkt dieser Moment nach all dieser Bildgewalt recht trivial. Man hätte auch so verstanden, was gemeint war. Dennoch ist dieses Stilmittel so simpel wie genial und zeigt die eigentliche Leistung von „The Artist“. In nur 100 Minuten hat es der Film geschafft unsere Sehgewohnheiten umzukrempeln und gleichzeitig den Glamour der 1920er Jahre zurückzuholen. Respekt!
The Artist, Stummfilm/Komödie/Drama, schwarz-weiß, Frankreich/Belgien 2011, 100 Min. ab 26.01. in vielen Berliner Kinos – im Original im Cinestar Sony-Center, Potsdamer Strasse 4, Berlin-Tiergarten, S-/U-Bahn: Potsdamer Platz und Neues Off, Hermannstraße 20, Berlin-Kreuzberg, U-Bahn: Hermannplatz