Wie Paul Celan zu sagen pflegte: „Es ist alles anders als du dir denkst.“ Im norwegischen Kinofilm „Ich reise allein“ muss auch der 25-jährige Literaturstudent Jarle (Rolf Kristian Larsen) diese Erfahrung machen: Eines Tages steht das Resultat einer versoffenen Nacht vor der Tür. Dieses Resultat heißt Lotte, ist sieben Jahre alt und wird von ihrer angeblich längst urlaubsreifen Mutter Anette erstmals zu ihrem unbekannten Vater geschickt. Weder er noch die kleine Lotte sind begeistert davon, Zeit miteinander verbringen zu müssen. Zumal Jarle lieber die Freiheiten seines Studentenlebens genießt, mit Liebeskummer zu kämpfen hat und darüber hinaus einen bedeutsamen Artikel über seinen Lieblingsschriftsteller Marcel Proust verfassen muss. Als dann auch noch seine Mutter und später Anette ebenso unangekündigt vor der Tür stehen wie Lottes Geburtstag, ist Jarle erst recht gezwungen umzudenken und seine Rolle als Vater ernster zu nehmen…oder eben auch nicht.
Die Geschichte von der unerwarteten Vaterschaft ist schon viele Male erzählt worden. Oftmals bot sie auch den Stoff für Komödien. Doch lässt sich dieser Film nicht wirklich diesem Genre zuordnen. Zwar finden sich überspitzte Charaktere, wie die leicht dümmlichen besten Freunde von Jarle ebenso wieder wie so mancher aus US-amerikanischen Teenie-Filmen bekannte Witz, dennoch ist der Film stellenweise viel zu tragisch, um als Komödie durchzugehen. Auch wenn der Fokus des Films auf Jarle liegt, ist seine kleine Tochter und ihr Kummer, sich nirgends wohl und willkommen zu fühlen, einfach nicht wegzudenken. Die Art ihrer Vernachlässigung lässt mitunter sogar Mitleid aufkommen. Verantwortliches Handeln, was bereits Kindern mühsam anerzogen wird, scheinen weder Jarle, noch Lottes Mutter, noch seine Freunde und Nachbarn verinnerlicht zu haben. Selbst Lottes Beisein bringt die Erwachsenen nicht dazu, erst zu denken und dann zu handeln. Somit fehlt dem Film auch die vielversprechende, wenn auch indirekte Rolle Marcel Prousts, welche auf viel Verstand, Tiefgang und Poesie hoffen ließ.
Dennoch ist davon auszugehen, dass dieser Film von Stian Kristiansen seinen Erfolg haben wird, genauso wie sein Vorgänger „Der Mann der Ynvge liebte“ (2008), in dem Hauptdarsteller Rolf Kristian Larsen ebenfalls schon mitwirkte. Schließlich ähnelt „Ich reise allein“ anderen Publikumserfolgen wie zum Beispiel den Filmen von Till Schweiger. Dabei ist es bedauerlich, dass bei vielen èuropäischen Filmen erst dann von „großem Kino“ gesprochen wird, wenn sie von den Produktionen Hollywoods kaum noch zu unterscheiden sind. Auch auf „Ich reise allein“ trifft das zu: Auch wenn der Film eine in Norwegen sehr beliebte vierteilige Romanserie gut und unterhaltsam umsetzt – er bleibt leider ein Abklatsch.
Hinzu kommt, dass die deutsche Sychronisation alles andere als gelungen ist und dem Film auch das Letzte an Charakter und Charme nimmt, den er schlussendlich doch besitzt. Wer sich an alldem aber genausowenig stört wie an der Tatsache, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen in diesem Film an der Oberfläche bleiben könnte an „Ich reise allein“ Gefallen finden.
„Ich reise allein“ (Jeg reiser alene), Norwegen 2011, Komödie/Drama, 94 min., seit 29.12.2011 in folgenden Berliner Kinos: Central. Rosenthaler Str. 39, Berlin-Mitte, S-Bahn: Hackescher Markt / Neue-Kant-Kinos, Kantstr. 54, Berlin-Charlottenburg, U-Bahn: Wilmersdorfer Straße / Moviemento, Kottbusser Damm 22, Berlin-Kreuzberg, U-Bahn: Schönleinstraße