Denk ich an Europa in der Nacht

„Europa ist kein Ort, sondern eine Idee“, lautet ein Zitat des französischen Journalisten Bernard-Henri Lévy. Und man mag ihm recht geben: Europa, dieses so genannte „Abendland“, hat nicht nur eine besondere Kultur und Geschichte. Viele teilen auch die Idee, dass wir Europäer anders ticken würden als die Anderen, dass Europa die Wiege von Zivilisation und demokratischer Kultur sei. Wie auch immer man dazu steht – Europa hat ganz klare Grenzen. Mauern und Elektrozäune definieren die vermeintliche Idee ganz klar als geographischen Ort.

Abendland“ ist der Versuch des Österreichers Nikolaus Geyrhalter, Europa in einen Film zu fassen. Mit der Kamera hat er so unterschiedliche Orte aufgesucht wie einen Sitzungssaal des Europaparlaments in Brüssel, einen Erotik-Club in Prag, die Frühgeborenenstation eines Krankenhauses und ein Krematorium. Die zwanzig Episoden sind hierbei assoziativ aneinander gereiht, ohne dass zunächst eine klare Struktur erkennbar wird. Als unbeteiligter Außenstehender beobachtet man aus der Distanz, wenn Gläubige auf dem Petersdom ihr Kirchenoberhaupt wie einen Fußballstar feiern oder Seelsorger am Telefon einen Zugang zu ihren verzweifelten Anrufern suchen.

Verstärkt wird diese Distanz durch die Stille, die den Film durchzieht. Es ist keine Stille im Sinne einer totalen Abwesenheit von Geräusch, sondern vielmehr eine Art Schweigen. Denn auch wenn ein Gespräch zu hören ist, findet keine Kommunikation mit der Kamera statt. Es gibt keine Erklärungsversuche, keine Einladung. Auch wenn der Zuschauer eines Films grundsätzlich die Position eines Außenstehenden besetzt und die Idee des Dialogs zwischen Protagonisten und Publikum utopisch ist, hat die hier erfahrene Verweigerung der Ansprache und Erklärung eine ungewohnt intensive Wirkung: Von Außenstehenden werden Zuschauende zu Ausgegrenzten. Das Gefühl einer momentanen Machtlosigkeit wird einem auf beklemmende Weise bewusst.

Europa ist eben nicht nur ein Ort, sondern auch eine Idee. Diese Idee der europäischen Einheit steht angesichts der aktuellen Finanzkrisen auf immer wackligeren Beinen. Die Idee wird brüchig. Gleichzeitig nehmen das Bedürfnis und die Bemühungen zu, Europa vor Einflüssen und Eindringlingen von außen zu schützen. Ist das der falsche Weg? “Abendland” möchte gar nicht erst versuchen, eine Antwort auf dieses schwierige Problem zu geben. Aber vielleicht regt der Film dazu an, wichtige Fragen zu stellen. Zum Beispiel, warum wir uns als Europäer Rechte zugestehen, welche wir anderen verwehren. Fragen wie diese sind nicht leicht zu beantworten, aber vielleicht ist es gerade deshalb wichtig, sie zu stellen, auch wenn sie uns vermutlich um den Schlaf bringen.

Abendland, Dokumentation / Österreich 2011, 90 Min., seit 22.12.2011 im Hackesche Höfe Kino (Berlin-Mitte), fsk (Berlin-Kreuzberg) und Tilsiter Lichtspielen (Berlin-Friedrichshain)