Die Möglichkeit einer Zukunft

Solange wir atmen, hoffen wir, sagt man. Und theoretisch ist da etwas Wahres dran: atmen heißt leben. Das heißt, dass sich noch etwas ändern kann – ob man sein Schicksal nun selbst in die Hand nimmt oder einfach darauf hofft, dass es von alleine besser wird. Dass es grundsätzlich möglich ist zu hoffen, bedeutet andererseits noch lange nicht, dass jede Hoffnung realistisch ist. Leben und atmen sind uns zwar angeboren, doch muss man manchmal erst lernen, richtig zu atmen. Durch die Nase tief ein und durch den Mund wieder aus. Sonst bleibt man schon bald mit Seitenstechen auf der Strecke.

Roman Kogler (Thomas Schubert) ist 19 Jahre alt und macht einen sehr hoffnungslosen Eindruck. Seine Kindheit hat er im Heim verbracht, die letzten fünf Jahre in der Jugendstrafanstalt. Er ist für den Tod eines Gleichaltrigen verantwortlich, der damals nach einer Schlägerei seinen Verletzungen erlag. Nun soll entschieden werden, ob Roman auf Bewährung entlassen werden kann, doch alle bisherigen Versuche, ihn über eine Arbeitsstelle wieder in die Gesellschaft einzugliedern, waren kläglich gescheitert. Er wirkt abwesend, kommuniziert kaum und reagiert aggressiv auf jeden Versuch von außen, in seine Welt vorzudringen.

Das Scheitern scheint ihm zur Gewohnheit geworden zu sein, und so nimmt man ihn zunächst nicht ernst, als er beschließt, sich bei einem Bestattungsunternehmen zu bewerben. Wahrscheinlich glaubt nicht einmal er selbst daran, doch nach einer Weile sieht es ganz so aus, als hätte es den Umgang mit dem Tod gebraucht, damit er zu lernen beginnt, wie richtig leben geht. Um den ersten Schritt aus seiner Lethargie zu wagen, benötigt auch Roman einen Schockmoment – etwas, dass ihn so sehr erschüttert, dass die Flucht nach vorne der einzig mögliche Ausweg ist.

Doch es ist nicht allein die Konfrontation mit dem Tod an sich und mit der eigenen Schuld, die ihn so unvorbereitet berührt. Vielmehr geht es um die Frage, wo man selbst, wo die eigene Perspektivlosigkeit ihren Ursprung hat. Denn nur wer seine Vergangenheit kennt und versteht, hat die Möglichkeit einer Zukunft.

Atmen“ ist das Regiedebüt des österreichischen Schauspielers Karl Markovics. Nichts in diesem metaphernreichen Film wurde dabei dem Zufall überlassen. In seiner Detailverliebtheit erinnert „Atmen“ an Lars von Triers „Melancholia„, ohne sich jedoch einer der Kunst geschuldeten Weltfremdheit hinzugeben. Ganz im Gegenteil: Markovics schafft es, die symbolischen Elemente so zu platzieren, dass sie dem eine Freude bereiten, der an ihnen interessiert ist, ohne dass sie sich aufdrängen müssten. Denn trotz aller Symbolik ist „Atmen“ so lebensecht, wie es ein Film nur sein kann. Dies wird vor allem dadurch erreicht, dass man sich auf das Wesentliche konzentriert hat.

Die Schauspieler verlieren kein überflüssiges Wort und zeigen, dass Kommunikation ein Prozess ist, der auf mehreren Kanälen stattfindet, da Körperhaltung, Ausdruck und Wortwahl sich gegenseitig bedingen. Neben dem Laien Thomas Schubert, der zufällig am Casting für die Rolle des Roman teilnahm, fällt vor allem Georg Friedrich in der Rolle des Bestatters Rudolf Kienast positiv auf. Die Ablehnung, mit der Kienast Roman anfangs entgegentritt, verkörpert er auch dann noch glaubhaft, wenn man als Zuschauer längst die Lächerlichkeit dieser allzu menschlichen Überreaktion begreift.

Ein weiterer Aspekt, der „Atmen“ zu einem manchmal atemberaubenden Kinoerlebnis macht, ist die Arbeit des Kameramanns Martin Gschlacht. Auch hier kann man davon ausgehen, dass alles, was gezeigt wird, auch von Wichtigkeit ist. Es lohnt sich, seine Aufmerksamkeit immer wieder auch auf den vermeintlichen Hintergrund, den nichtfokussierten Bildbereich zu richten. Denn gerade hier steckt oft eine wesentliche Metapher – und mit ihr der Kontext, über den sich die größere Bedeutung der Szene zeigt. Ergänzt durch die Musik überwindet die Kamera schließlich alle Distanz, ohne dabei pietätlos zu wirken. Und auf überraschend harmonische Weise eröffnet sich im Angesicht der Vergänglichkeit dem Zuschauer wie auch dem Protagonisten eine neue Perspektive.

Atmen (OmU), Österreich 2011, Drama, 93 Min. Ab 08.12.2011 im fsk-Kino am Oranienplatz, Segitzdamm 2, Berlin-Kreuzberg, U-Bhf Kottbusser Tor oder Moritzplatz.