Mächtige Medien, tödliche Worte

Nachdem den Kleinkindern die Beine abgeschnitten werden, kommt die Mutter dran. Die älteren Geschwister haben Glück – sie werden lebendig zwischen die Leichen in eine Latrine geworfen. Ein schwerer Betondeckel besiegelt ihr Schicksal – nur durch Zufall werden sie nach einer Woche gerettet. Berichte wie diese erzählen Ruander, die überlebt haben.

Hate Radio. Foto: Daniel Seiffert

In dem zentralafrikanischen Land von der Größe Brandenburgs wurden im April 1994 innerhalb weniger Wochen cirka 800.000 Tutsi von ihren Hutu-Nachbarn niedergemetzelt. So archaisch dieser Völkermord der Macheten war – es war der effektivste in der Geschichte der Menschheit. Wie kann man das in Worte fassen? Wie sollte man die komplexen Gründe denen, die nicht da waren, begreiflich machen? Das Theaterstück „Hate Radio“ beleuchtet einen ausschlaggebenden Aspekt – die volksverhetzende Propagandaarbeit eines Kurzwellensenders.

Ausgerechnet mithilfe der Technik, der sich das Radio Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) in der Hauptstadt Kigali bediente, kommt der Ton bei den Zuschauern im HAU 2 in Berlin an. Wenn man die Kopfhörer abnimmt, herrscht fast Stille. „Hate Radio“ ist so gesehen ein stummes Stück. In einer amerikanischen Einstellungsgröße stehen zwei Männer und zwei Frauen auf eine Wand projiziert vor uns und bewegen die Lippen. Nur mit Kopfhörern können wir die Zeitzeugenberichte der Massenvernichtung hören. Eine Metapher der eigentlichen Unmöglichkeit des Verstehens? Als zusätzliche Barriere wirkt die visuelle Distanz – man sieht die Schauspieler entweder als Projektion oder hinter Glas. Kein einziges Mal wird das vor Blut triefende Grauen gezeigt.

Gezeigt wird anstattdessen der Studioalltag auf einer kleinen Radiostation. Valérie Bemeriki, Georges Ruggiu und Kantano Habimana sitzen an einem runden Tisch und moderieren das Programm. Es geht heiter zu, es wird geraucht und Bier getrunken. Unglaublich scheint, dass diese locker-lustige Stimmung ihren Antrieb aus Hasstiraden schöpft. Der deutsche Zuschauer denkt an NS-Propaganda und liegt damit gar nicht so falsch: Die Lügen tragen den Zug fanatischer Sicherheit, der Feind ist klar – es sind die inyenzi, die Kakerlaken. Gemeint sind die Tutsi, die ehemals starke soziopolitische Kaste Ruandas. Mit rhetorischer Schärfe und einer gefährlichen Umkehrlogik werden ihnen die eigenen Gewalttaten angelastet, sie sind an allem Schuld. DJ Joseph spielt zwischen Hetze, Quiz und Höreranrufen beliebte 90er-Hits.

Durch die Abstraktion von Worten nutzt Milo Rau geschickt eine der wenigen Möglichkeiten, dem Sensationalismus abgeschlagener Gliedmaßen zu entgehen. „Hate Radio“ braucht keine aufgeschnittenen Bäuche, es zeigt das infektiöse Potenzial von Propaganda. Die Handlung des Stückes kann als Kondensat des Studiomaterials gesehen werden, das während des ungefähr einjährigen Wirkens des Hass-Radios in den Archiven erhalten geblieben ist. Um eine authentische Atmosphäre sicherzustellen, hatte Rau im Vorfeld Valérie Bemeriki im Gefängnis befragt. Das Studio im Stück ist ihrer Handzeichnung nachempfunden worden. Mit Dorcy Rugamba, der Habimana spielt, steht außerdem ein Zeitzeuge auf der Bühne. Der Schauspieler hat den Vorabend des Genozids als ruandischer Student erlebt.

„Hate Radio – noch bis 4. Dezember um 20h im HAU 2, Hallesches Ufer 32, Berlin-Kreuzberg, U-Bahn: Hallesches Tor

(Foto: Daniel Seiffert, Linkfoto: Schädel in der Nyamata Gedenkstätte in der Nähe von Kigali, der Hauptstadt von Ruanda., by Fanny Schertzer, wikipedia)