Wer von sich behauptet, Chillwave zu mögen, muss sich auf viel Gegenwind gefasst machen. Image, Vermarktung, Stimmung – kaum ein anderes Genre sorgt für so viel Diskussionen in Experten- und Möchtegern-Experten-Kreisen. Dabei ist es fraglich, ob die 2009 vom Hipster Runoff-Blogger Carles entworfene Sammelbezeichnung für ein paar aufstrebende Bands wie Memory Tapes, Washed Out und Toro Y Moi überhaupt eine eigene Musikrichtung charakterisiert. Wahrscheinlich ist es bloß ein angenehmes Beiprodukt der Rezession, wie John Pareles von der New York Times treffend formulierte – günstig produziert und definitiv tanzbar. Doch jede Party geht einmal zu Ende und darum haben sich Neon Indian rund um den Texaner Alan Palomo einen dunkleren Anstrich verpasst und wollen mit „Era Extraña“ über Genregrenzen hinweg ernstgenommen werden.
So gesehen ist man wenig überrascht, wenn Palomo in den ersten drei Songs seine Verlustängste besingt. Jedoch tut er dies auf sehr unterschiedliche Arten; mal seufzend, mal klagend, an anderer Stelle wieder selbstironisch. Shoegaze, Synth-Pop, Noise-Rock: Neon Indian toben sich aus und erreichen viel. Fast jeder Song hat seine eigene Identität. Durch die seriöse Bearbeitung dank MGMT-Produzenten Dave Fridmann wirkt auch kein Loop, kein Sample beliebig. Unaufhaltsam bahnt sich die wütende Gitarre ihren Weg durch „The Blindside Kiss“. Wären da nicht die unzähligen Synthie-Loops könnte der Track genauso gut aus der Feder von den Noise-Rock-Künstlern A Place to Bury Strangers stammen. Dagegen stützen sich Neon Indian in „Hex Girlfriend“ auf opulente Keyboardklänge. Sympathisch wirkt dabei Palomos Aufstöhnen zu der Frage „Did they make you feel alright?“. Umspannt wird das Album von den experimentellen Instrumentalstücken „Heart: Attack“, „Heart: Decay“ und „Heart: Release“. Diese Titel wird man kaum für längere Zeit im Kopf behalten, jedoch haben sie eine andere Funktion: Immer wieder, wenn Era Extraña eine neue Wendung benötigt, werden diese Titel eingebunden und somit ein Neuanfang geschaffen.
Dass Neon Indian auch eingängige Lieder schreiben, das beweist schon das große Highlight des Albums: „Polish Girl“ kann man sich nicht widersetzen. Nach wenigen Sekunden ist die einfache Melodie fest im Gehirn, aber noch viel mehr im Herzen verankert. Auf angenehm unaufgeregte Weise lädt der eigentliche Opener zum tanzen ein, während Palomo eine dieser einfachen quälenden Fragen stellt, deren Antwort man am liebsten gar nicht hören will: „You fail to remember, but do I still cross your mind?“ Die Direktheit, die trotz der Dutzenden Klanggerüste durchbricht, sorgt dafür, dass „Era Extraña“ sehr viel voller und mächtiger wirkt als das Debüt „Psychic Chasms“. Und so wird die zweite Platte von Neon Indian als überraschend erwachsen in Erinnerung bleiben, ohne die Verspieltheit von jungen Musikern vermissen zu lassen.
Preview:
[podcast:]http://media.bln.fm/media/audio/previews/neon_indian_era_extrana_preview.mp3[/podcast]
Tracklist:
- Heart: Attack
- Polish Girl
- The Blindside Kiss
- Hex Girlfriend
- Heart: Decay
- Fallout
- Era Extraña
- Halogen (I Could Be A Shadow)
- Future Sick
- Suns Irrupt
- Heart: Release
- Arcade Blues