Zu viel Underground ist auch nicht gesund

Da können wir Berliner noch so viel meckern – zum Beispiel über gemeingefährliche Leihfahrradkolonnen, omnipräsente Gehwegblockierer oder bierselige Partystraßenbahnen – ohne den Tourismus wäre unsere Stadt wahrscheinlich nicht mehr nur scheinpleite, sondern schon längst verhungert. So scheint es zumindest, denn wenn die Medien in letzter Zeit endlich auch mal etwas Positives über die Berliner Wirtschaft berichten, hat es meistens mit der Tourismusbranche zu tun. Für gute Statistiken braucht die Hauptstadt dabei noch nicht mal gutes Wetter, denn ein nicht unbedeutender Teil der Anziehungskraft liegt wohl in der Berliner Subkultur, und die hat ja quasi immer Saison. Als moderner Subkultur-Tourist grast man also kaum mehr die altbekannten Sehenswürdigkeiten ab, sondern möchte stattdessen etwas unglaublich Einzigartiges erleben. So verlässt man dann die kulturellen Trampelpfade und macht sich auf die Suche nach dem möglichst wahren Untergrund – wie so mancher Berliner auch, wobei der dann mit aller Kraft versucht, den vergnügungswütigen Besuchern wenigstens ein paar kleine Schritte voraus zu sein.

Urban Exploration ist im Grunde die mehr oder weniger sportliche Extremform eines solchen Wettlaufs. Hierbei geht es darum, verlassene und vergessene Orte zu erkunden, wobei man beim illegalen Betreten der zerfallenen Gebäude einige Gefahren in Kauf nimmt – im echten Leben jedoch wohl weniger drastisch, als es in Andy Fetschers Film „Urban Explorer“ geschieht: Vier Jugendliche aus aller Welt – die Französin Marie (Catherine de Léan), die Koreanerin Juna (Brenda Koo), Lucia aus Venezuela (Nathalie Kelley) und ihr US-amerikanischer Freund Denis (Nick Eversman) – treffen auf Kris (Max Riemelt), der den touristischen Urban Explorern ein einzigartiges Berlin-Erlebnis verspricht, nämlich Zugang zu dem seit vielen Jahrzehnten verlassenen „Fahrerbunker“ mit seinen nationalsozialistischen Wandmalereien. Als der erfahrene Tourguide aber nach einem tiefen Sturz schwer verletzt auf dem Boden eines Schachts liegt, begeht die Reisegruppe den schwerwiegendsten Fehler, den man als Protagonist in einem Horrorfilm wohl begehen kann: man trennt sich. Und während das Liebespaar bei dem Verwundeten Wache hält, suchen die beiden anderen Mädchen den Rückweg, um draußen Hilfe zu holen. Währenddessen taucht wie aus dem Nichts der ehemalige NVA-Grenzsoldat Armin (Klaus Stiglmeier) am Unfallort auf und bietet seine Hilfe an. Doch schon bald dämmert Denis und Lucia, dass irgendetwas mit dem Mann nicht stimmt.

„Urban Explorer“ wurde ausschließlich vor realer Kulisse gedreht, und Andy Fetscher, der nicht nur für die Regie, sondern auch für Kamera und Schnitt verantwortlich ist, visualisiert in vielen ästhetischen Einstellungen nicht bloß die Faszination, die von diesen geheimnisvollen Orten ausgeht. Auch das Unheil, das die Protagonisten in der Dunkelheit erwartet, lässt sich erahnen, wenn kleine Nebensächlichkeiten aus der morschen Umgebung in den Fokus der Kamera rücken. Jenseits der Ästhetik scheint der Film jedoch zunächst nicht so richtig in die Gänge kommen zu wollen, denn oft wirken die kleinen Schreckmomente zu sehr konstruiert, so dass man sich beinahe fragt, ob sie nicht bloß als eine Parodie auf Genrekonventionen gedacht sind. Spätestens wenn der hilfsbereite Armin nach und nach sein wahres Gesicht zeigt, zieht das Tempo des Films immerhin endlich an, was vor allem an Klaus Stiglmeier liegt, der mit seiner Darstellung des Psychopathen eindrucksvoll zeigt, wie ungesund Wehrdienst für die menschliche Seele sein kann. Die unvermeidliche Jagd auf Leben und Tod schlägt dann immer wieder den einen oder anderen erwartungsgemäß überraschenden Haken, und in schnellen Bildschnitten wird die Phantasie des Zuschauers angeregt, in den angedeuteten Umrissen das Schlimmste zu erkennen.

Wer einen durchweg ernsthaften und realistischen Horrorfilm erwartet, könnte von „Urban Explorer“ wohl enttäuscht sein – unterhaltsam ist der Film trotz allem. Und an sich liefert das Drehbuch ein recht schönes düsteres Gedankenspiel auf die verborgenen und verbotenen Orte im Berliner Untergrund. Sehenswert ist neben Bildästhetik und Kulisse vor allem die Figur des Mörders. Stiglmeiers Armin ist, wenn er nicht gerade gewaltsam Leben beendet, so unscheinbar seltsam, dass er sogar als Berliner Fahrkartenkontrolleur durchgeht. Der Kontrolleur ist immer der Mörder, sozusagen der Gärtner des Berliner Untergrunds. Nicht ohne Zynismus mahnt jedoch die Schlussszene: Gärtner und Fahrkartenkontrolleure sind auch nur Menschen – auch wenn sie heimlich hauptberuflich meucheln.

Urban Explorer, Horror / Deutschland 2011, 94 min., ab 20.10.2011 im CineStar CUBIX am Alexanderplatz, Rathausstr. 1, Berlin-Mitte, U-/S-Bahn: Alexanderplatz