Björk – Biophilia

Vier Jahre waren seit „Volta“ vergangen, als Björk im Juni 2011 den Nachfolger „Biophilia“ ankündigen ließ. Stück für Stück kamen immer weitere Details ans Licht – und seitdem schwappen Neugierde wie auch Skepsis durch Presse und soziale Netzwerke. Denn mit „Biophilia“ wartet die exzentrische Isländerin mit einem Gesamtkunstwerk auf: neben dem Musik-Album, für das sie eigens neue Instrumente wie das „Sharpsichord“ oder drei Meter hohen Pendelharfen erfinden und bauen ließ, präsentiert sie zu jedem Track eine gleichnamige App. Hinzu kommt ein Dokumentarfilm und eine Homepage, die alle Information zu und um „Biophilia“ herum bündelt. Unterstützt durch ein Team aus Musik- und Naturwissenschaftlern will Björk mit dem Projekt das Zusammenspiel von Natur, Technik und Musik erfahrbar machen. Biophilie in Björkscher Weise also.

Das ehrgeizige Mammutprojekt beeindruckt schon allein durch seine innovative Herangehensweise. Gab es schon vorher einige Ansätze für eine Umsetzung von Musik als multimediales Gesamtkunstwerk – man denke an Pink Floyd, Peter Gabriel oder auch Prince – setzt Björk hier neue Maßstäbe. Schade nur, dass die Apps derzeit nur für Apple-Produkte verfügbar sind, alle Nicht-Besitzer bleiben „nur“ auf Musik und Webseite beschränkt. Und natürlich stellt sich bei all dem multimedialen Drumherum die Frage: Hält die Musik selbst den hohen Erwartungen des Projektes stand?

Gleich beim ersten Klang wissen wir zumindest: Ja, das ist unverkennbar Björk. Eine Harfe setzt ein, auf der sich ihr Gesang klar und deutlich abhebt, begleitet vom isländischen Chor Graduale Nobili, der auch in weiteren Liedern des Albums zu hören sein wird. Fast schüchtern und vorsichtig wirkt dieser Einstieg in die folgende dramatische Reise durch den Björk-Kosmos. Loopartig schreitet die Stimme einer Harfe abwärts, auf welche Björk mit einer steigend fragenden Melodie beschließt: „To risk all is the end all and the beginning all“ – ein Indiz für das, was noch kommt.

Mit dem zweiten Track werden die Stukturen und Arrangements schon wesentlich komplexer: Am Anfang noch puristisch mit Orgelklängen und Gesang, steigert sich „Thunderbolt“ mit Synthie und Chor zu einem ersten Höhepunkt des Albums. Björk singt darin über ihre Sehnsucht nach Wunder: Mit jeder Pause zwischen den Strophen holt sie kurz Luft, legt mehr von ihrer anfänglichen Unsicherheit ab und setzt um so energischer und leidenschaftlicher ein. In dem beeindruckenden Lied kristallisiert sich das Schema heraus, welches das Album fortan prägen wird. Ein Großteil der Tracks lebt von Gegensätzen: der krassen Gegenüberstellung von Strophe und Refrain oder der Steigerung von der anfänglichen Ruhe hin zum stürmisch Leidenschaftlichen. So beginnt auch die Vorabsingle „Crystalline“: anfangs bestimmen zarte und zerbrechliche Glockenspielklänge das Lied, das in einer heftigen Drum’n’Bass-Passage mündet. Das unberechenbare Wachstum von Edelsteinen und Kristallen, vorab Leitmotiv in den Visualisierungen zum Albums, ist damit mehr als treffend ins Musikalische übersetzt worden.

Nach dem wilden, unbändigen Ende von „Crystalline“ bestimmen düstere, getragene Klänge den Mittelteil des Albums. Das sehr ruhige „Cosmogony“ erinnert an ein Wiegenlied, wäre da nicht der unheimlich anmutende Chorgesang. In „Dark Matter“ ertönen lang gezogene, tiefe Orgeltöne, auf denen Björks Gesang von einer dissonanten Zweitstimme beschnitten wird. Das folgende „Hollow“ ist ein theatralischen Stimmexperiment zu stakkatoartigen Orgeltönen, bei dem sich nachvollziehbare Harmonien und Songstrukturen gänzlich auflösen.

Dem Ausflug ins Nur-noch-Experimentelle folgt die Kehrtwende zum Pop auf dem Fuße. Die hübsche Liebesballade „Virus“ schwebt in romantisch-leichter Verklärung, ist jedoch in ihrer Belanglosigkeit ein Tiefpunkt des Albums. Danach folgt dem etablierten Kontrast-Schema gehorchend eines der intensivsten und persönlichsten Lieder des Albums. Mit leicht verzerrtem Glockenspiel in den Strophen und zischender Rhythmussektion im Refrain reflektiert Björk in „Sacrifice“ über das Nehmen und Geben in einer Beziehung – und berührt damit bis ins Innerste. Diese nachdenklichen, tiefgründigen Lieder bleiben klar die Stärke Björks.

Mit „Biophilia“ ist Björk erneut ein schönes und spannendes Album gelungen. Stilistisch passt es weiterhin in keine Schublade; es ist viel mehr wie die hierfür erfundenen Instrumente eigen- wie einzigartig. Mal spielen die Lieder mit Düsternis und Dissonanz, mal mit Seichtigkeit und Kitsch. Doch auf jeden Fall birgt das Album einige Kunstwerke, die es zum lohnenswerten Hörgenuss machen. Bleibt nur zu hoffen, dass Berlin auch zu den acht Städten gehören wird, in denen Björk das Multimedia-Spektakel in den kommenden drei Jahren aufführen wird.

Tracklist:

  1. Moon
  2. Thunderbolt
  3. Chrystalline
  4. Cosmogony
  5. Dark Matter
  6. Hollow
  7. Virus
  8. Sacrifice
  9. Mutual Core
  10. Solstice