Als Sängerin tourt Aérea Negrot mit der Discokombo Hercules and Love Affair durch die Weltgeschichte. Als Solokünstlerin ist sie durch ihre extravaganten Auftritte im Berghain oder der Malzfabrik bekannt geworden. Dabei sorgt sie für reichlich Bühnenzauber im sonst eher distanzierten Technokosmos.
Bei ihren Gigs steht Aérea meist nur mit einem Mikro bewaffnet vor dem DJ-Pult. Ein schwarzes Kleid. Die kurzen schwarzen Haare streng zurecht gemacht. Große Ohrringe, dazu glitzernde Armreifen und Halskette, Licht und Blicke auf sie gerichtet. Dahinter steht DJ Fata Kiefer an den Reglern, der recht unauffällig einen tiefen, dreckig minimalistischen Beat serviert.
Aérea tanzt, hält das Mikro mal nah am Mund, oder weiter weg, wenn sie ihre kräftige Stimme lauter ansetzt. Mit ihrer Kopfstimme fährt sie Achterbahn im Stile einer Opernsängerin oder sprudelt mit Mund und Lippen unheimliche Salven Stakkato-Töne ins Mikro, die sie eigenhändig am Pult mit Effekten bearbeitet. Nein, sie hat nicht etwa ihren Text vergessen, sondern befindet sich gerade mitten in ihrem musikalisch beseelten Gefühlsrausch, zu welchem sie die Anwesenden einlädt. Mit viel Gefühl, passend zum tiefen Beat. Sie hat einen großen Knall, der aber auch spannend und kreativ zugleich ist. ¡Bienvenidos in der mystischen Welt von Aérea Negrot!
Auch Ellen Alliengefiel die eigenwillige Kunst der in Berlin lebenden Venezuelanerin. Desalb ließ sie Aérea Negrot Debütalbum „Arabxilla“ am 19. September auf Bpitch Control erscheinen.
Was treibt Aérea eigentlich zu dieser eigenwilligen Kunst an? Beim Track „All I wanna do“ auf der von Allien zusammengesetzten Watergate-Compilation 05 stellte sie bereits klar: „All I wanna do is sing and let my brain fuck my emotion.“ Na denn, rein ins neue Album!
Im kleinen Intro warnt sie vor einem langweiligen Filmabend am Wochenende mit Freund und Eiscreme. Danach folgt zur richtigen Einstimmung ins Album ihr allererster, selbst produzierter Track überhaupt, das soulige „Arabxilla“. Fast schon gezähmt singt sie sich durch die Textpassagen des groovenden Beats, man beachte besonders das schwerelose Zwischenstück! Es folgt das poppige „Todeloo“ mit ein paar kritischen Textzeilen über ihre Eltern: auch eine Form die Kindheit aufzuarbeiten.
Bei „A volar“ wird es musikalisch zunächst unauffälliger und die Musik versinkt im poppigen Niemandsland. Doch mit der basslastigen Hook in „Deutsche werden“ wird’s spannender. In einem absurd komischen Text besingt Aérea ihren Deutschunterricht in Berlin-Wilmersdorf und behördliche Formulare. Der Beat bleibt frisch und in schallendem Gelächter versinkt die ironische Textzeile „…und dann sind wir zur Ausländerbehörde gegangen, naja, man hat nie genug Dokumentahahaha.“ Dann quietscht sie wieder los, „…ich lass mich nicht verarschen, ich will eine Deutsche werden!“ Das ist kein Techno, das ist auch nicht zum Tanzen, das ist eher reif für’s Theater!
Die folgenden Tracks sind düsterer. Um Sehnsucht und Liebe geht es in „Please move to …“, in „Berlin“ besingt sie am Klavier Berliner Bären, die vielen „tollen“ Alkis und gaffende Leute in der Stadt. Flexibel, so wie ihre Stimmeinlagen, singt sie mal in Spanisch, Englisch, oder in Deutsch.
Aéreas textliche Gedankensprünge sind bisweilen verwirrend, verschnaufen lässt es sich bei „Breathe deeply“, wo mal die Musik im Vordergrund steht. Den Tracks im Mittelteil des Albums ist der anfängliche Esprit verloren gegangen, es fehlt ein neues Überraschungsmoment – es plätschert beim Weiterhören dahin, alles nett arrangiert, aber der Funke scheint nicht mehr überspringen zu wollen. Doch bei „Hair“ ist die avantgardistische Elektronika wieder da, die Basslinie drückt einen in den Sessel, Aéreas Stimme fliegt hier und da durch die zappelnden Effekte. Dem Track „Listen to the people“ steht ein „Proll-Og“ (Achtung: Wortspiel!) vor, der ihren Gesang auf Cembalo und Violinen bettet und erahnen lässt – ein Arrangement, welches an teure Produktionen mit Grace Jones und James Bond-Interpretin Shirley Bassey erinnert.
Das Album „Arabxilla“ ist kein musikalisch verfrickeltes Konzeptalbum, aber darum geht’s auch gar nicht. Durch ihre markante Stimme entwickelt Aérea Negrot ein eigenwilliges Klangspektrum, welches ihre Musik speziell und gut macht. Sie gestaltet damit „Arabxilla“ als eine Art musikalisches Tagebuch, in das sie ihre erlebten Alltagsgeschichten und Gefühle direkt und pointiert formuliert. Und auch wenn einiges in den Texten zu Selbstverwirklichung, der Liebe zu Berlin und Behördenformularen absurd scheint – die Ernsthaftigkeit bleibt nie auf der Strecke.
„To have this album ready is like giving birth to an 8 year old baby“, fasste Aérea kürzlich ihr Werk in einem Interview zusammen. Stimmt – doch wirklich nahe kommt man ihrer Gefühlswelt wohl nur live!
Preview:
[podcast:]http://media.bln.fm/media/audio/previews/aérea_negrot_arabxilla_preview.mp3[/podcast]
Tracklist:
- Bipolintro
- Arabxilla
- Todeloo
- A Volar
- Deutsche Werden
- Please Move To…
- Berlin
- Breathe Deeply
- It’s Lover, Love
- Come Back
- Hair (tobias. Album Version)
- Proll-Og
- Listen to the People
- It’s Lover, Love (Dub)