So war’s: Wenn die Musik-Avantgarde Europa feiert

„Wer bin ich? Was will ich? Wer macht mit?“ Antworten auf diese Fragen mögen nicht nur dem Einzelnen schwerfallen, auch im Fall von ambitionierten Kulturveranstaltungen sind sie nicht immer klar zu beantworten. Und laut dem zeitgenössischen Philosophen Zygmunt Bauman, dem ideologischen Patron des European Culture Congress sind Fragen ja sowieso wichtiger als Antworten. Das Spektakel fand zum Anlass der polnischen EU-Ratspräsidentschaft vom 8.-11.9.2011 in Wroclaw statt. Heraus kam der Versuch, Vieles und Unterschiedliches unter einen Hut zu bekommen – ein Spagat zwischen Politik und Kultur, dessen Schwierigkeit spürbar war.

Gehinkt hat die ganze Sache vor allem organisatorisch: Offizielle Termine wurden umverlegt, sodass sie nicht erreichbar waren, prominente angekündigte Redner blieben fern, obwohl sie auf der Webseite annonciert wurden, trotz lange im Voraus organisierter Akkreditierungen gab’s Stress am Einlass.

Doch der Kampf mit dem bürokratischen Wahnsinn hat sich gelohnt, denn nicht nur das Konzert von Jonny Greenwood und dem polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki stellte sich als erstklassig heraus. Während Penderecki für seine Kompositionen zu den Soundtracks für Stanley Kubricks „Shining“ und William Friedkins „The Exorcist“ hochgeschätzt wird, ist Greenwood der breiten Öffentlichkeit hauptsächlich als Radiohead-Gitarrist bekannt. Zu Unrecht: Das BBC Concert Orchestra orderte bei ihm bereits synfonische Werke. Seine Musik wurde in mehreren Soundtracks, unter anderem im japanischen Film „Norwegian Wood“ nach einem Roman Haruki Murakamis verwendet.

In Zusammenarbeit mit Penderecki hatten Greenwood (am Freitag) und Aphex Twin (am Samstag) dessen avantgardistisches Werk „Polymorphia“ (1961) neu interpretiert, das neben „Threnody for the Vistims of Hiroshima“ (1960-61) und „Canon for Strings“ (1962) zunächst im Original von Penderecki dirigiert wurde. Pendereckis Kompositionen zeichnen sich durch quietschend-schaurige Geigen und mysteriöse, an- und abschwellende und auch abreißende Klänge aus. Sie passten in ihrer Experimentalität sehr gut zu den Projektionen einer abstrakten Aschelandschaft – unverkennbar Filmmusik!

Greenwoods Stücke – „Popcorn Superhet Receiver“ (2005), „Future Markets“ (2007) aus dem „There Will Be Blood“-Soundtrack und „48 Responses to Polymorphia„, wurden von Marek Mos dirigiert. Sowohl in den Kompositionen Pendereckis als auch in denen von Greenwood wurden der Klang der Geigen multifunktional ausgeschöpft. In „48 Responses to Polymorphia“ wurden sie sogar eine Weile lang wie Gitarren gespielt. In Persona gab sich das Mitglied von Radiohead nur zum Schluss für eine Verbeugung die Ehre.

Immerhin war er da, Umberto Eco kam gar nicht. Genau wie im Fall des Schriftstellers und Politikers Václav Havel hatte seine Ankündigung auf der Website des Kongresses für Verwirrung gesorgt – zusammen mit dem Philosophen Peter Sloterdijk waren die drei unter anderen zwar im Ehrenkomitee des Kongresses vertreten, jedoch nicht bei der Veranstaltung selbst anwesend.

Samstag war mit der großartigen Kollaboration zwischen Penderecki und Aphex Twin der Höhepunkt des Kongresses. In der zum Weltkulturerbe gehörenden Jahrhunderthalle, die einem U-Boot gleicht, wurden neben den drei klassischen Stücken Pendereckis Aphex Twins Interpretationen zu einer spektakulären Lasershow uraufgeführt. Als technisch interessant stellte sich das Set von Aphex Twin heraus, bei dem dieser das Octava Ensemble durch ein digitales Visual, das nur im Ansatz traditioneller Notensprache ähnelte, dirigierte. Doch wie beeindruckend die Lasershow auch war, das wahrscheinlich schönste und gleichzeitig bizarrste Bild folgte am Ende: IDM-Derwisch Richard David James und Klassik-Komponist Krzysztof Penderecki bekamen gemeinsam unter Standing Ovations Blumensträuße.

Mitschnitte des Aphex Twin-Konzerts:

Im Unterschied zu den im klaren Bezug zueinander stehenden Konzerten Pendereckis, Greenwoods und Aphex Twins, kann man bei der Programmierung der nach dem David Bowie-Album benannten „Scary Monsters and Super Creeps“-Konzertreihe von einer gewissen Beliebigkeit sprechen. Hier sorgten Stornoway am ersten Abend trotz leichten Regens für eine unterhaltsame Überraschung – und das lag nicht nur am trockenen Humor der Frontsängers. Die von Oxford-Studenten gegründete Band aus Großbritannien, die 2010 debütierte, lieferte unkomplizierten akustischen Indie-Folk. Wer sich lieber bei einem Drink der musikalischen Berieselung hingeben wollte, konnte den allabendlichen Sets polnischer DJs beiwohnen, die durch den Flair und die fabelhafte Akustik des zauberhaft vernachlässigten historischen Gebäudekomplexes der Wytwórnia Filmów Fabularnych eine zusätzliche Erfahrungsqualität gewinnen konnten. Und natürlich dürfen nicht die köstlichen polnischen Delikatessen wie Pierogi und Surówki vergessen werden, die dazu gereicht wurden.

Während des Tages wurde ein reiches Ausstellungsprogramm dargeboten. Von einer herausragenden Ausdrucksstärke war hierbei Miroslaw Balkas „Wege zur Behandlung von Schmerzen“. Die feierlich-industriell anmutende Raumskulptur des Künstlers, dessen Werke im MOMA in New York und in der Tate Gallery in London ausgestellt werden, besteht aus einem riesigen Auffangbecken aus Metall, in das der Besucher keine Einsicht hat. Ununterbrochen schießt eine dunkle Flüssigkeit aus einem Schlauch in Deckennähe in den Tank. Dem Geräusch, das es währenddessen verursacht, kann man sich weder im Pavillon, noch in einem seiner Nebenräume entziehen. Im Vergleich zu diesem Werk nahm sich Brian Enos multimediale Klangskulptur in der Breslauer Fontäne zwar ein wenig kitschig aus, war aber dennoch sehenswert. Zu abstrakten Klängen projizierte er ein buntes, bewegliches Visual auf eine 120m²-Wasserwand.

Ein sehr ästhetisches, akustisches Erlebnis war das „Cinema of Sound“, bei dem der Besucher in einen abgedunkelten, mit Holz ausgekleideten Raum geführt wurde und im Liegen unterschiedlichen Klangstücken folgen konnte. Besonders gefragt war hierbei am Samstag John Cages fast schon meditativ wirkendes und von James Joyce’s „Finnigans Wake“ inspiriertes Radiostück „Roaratorio“, bei dem mehr oder weniger deutlich vor sich hinmurmelnden Autor durch unterschiedliche Klanglandschaften gefolgt wird.

Wer den Auftritt der Krautrockpioniere Faust geschwänzt hat, konnte am Samstag an einem weiteren europäischen Kulturspektakel teilhaben: Dem Boxkampf des polnischen Nationalhelden Tomasz Adamek gegen Vitali Klitschko, der genau in dieser Nacht in Wroclaw stattfand. Nach all den politisch-kulturellen Diskussionen in den Vortagen herrschte wenigstens im polnischen Publikum endlich einmal eine erfrischende Einigkeit  – auch nach der Niederlage Adameks.

Hier die Bildergalerie zum European Culture Congress:

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(Fotos: Sara Hussain)