Schnell hat sich totgelaufen

Seit einer Weile weiß die Welt von Google+, dem neuen sozialen Netzwerk. Andrew Jones stellt fest: auch in der virtuellen Welt sozialer Netzwerke gelten die Gesetze des Nachtlebens.

Drei Mal hab ich es versucht… mich angestellt, gewartet, und möglichst entspannt und unbeeindruckt getan. Aber immer wieder wurde ich doch abgewiesen. Am Einlass guckt man erhaben auf mich herunter und schüttelt den Kopf. Man findet es wohl echt erbärmlich, dass ich mir noch nicht mal die Mühe gemacht habe, mich vor jedem weiteren Versuch neu zu verkleiden. Dabei wollte ich nur auch mal unter den frühen Vögeln sein, die vor den Spätzündern und Langschläfern neue Felder erkunden. Und wenn die Nachzügler irgendwann eintrudeln würden, hätte ich gelangweilten Blickes auf die Hysterie der anderen herabsehen können. Aber es sollte wohl nicht sein. Dabei stehe ich doch auf der Gästeliste!

 

Alles nicht dramatisch. Denn ich bin, was Neues angeht, mit einer ausgeprägten Geduld ausgestattet. Na ja, eigentlich ist es weniger Geduld als vielmehr Skepsis. Und wenn mal wieder irgendein Hype um eine der zahlreichen Ecken dieser Stadt und des sogenannten globalen Dorfs biegt, fällt mir zu all der Aufregung der Anderen ein Satz ein, den ich als eiliges Kind oft gehört habe. „Schnell hat sich totgelaufen.“ Und je länger ich diesen Satz so wirken lasse, desto mehr komme ich mir alt und konservativ vor. Mit leichter Panik im Nacken nehme ich mir also immer wieder vor, auch mal der Prophet zu sein, der zum Berg kommt, bevor dieser ihm entgegenwächst.

Letztendlich ist es mit solchen Vorhaben meistens wie mit Neujahrsvorsätzen: Es ist der Wille, der zählt. Aber es ist der Mangel an Willenskraft, der am Ende siegt, und die Stimme des schlechten Gewissens hüllt sich wieder in ewiges Schweigen. So viele angebliche Insiderclubs in dieser Traumstadt für Ausgehfreunde habe ich scheinbar erst dann kennengelernt, als sie schon nicht mehr cool waren. Zum Glück waren meine hohen Erwartungen, mit denen ich noch in der Schlange am Einlass stand, oft nur gespielt. Ich habe sie dann meistens gleich an der Garderobe abgegeben, zur Not auch nur irgendwo in eine dunkle Ecke geworfen oder sie hinter der Bassbox verstaut. So ließ sich meistens halbwegs okay feiern. Hauptsache man hat die richtige Begleitung dabei.

Ohne die richtigen Leute um einen herum fehlt es jedem Nachtleben an Qualität, deshalb braucht jeder seine Szene. Das heißt im Grunde nichts anderes als: Da sind auf der einen Seite die eigenen Freunde, möglichst viele davon. Und auf der anderen solche Personen, die man gerne zum Freund hätte, vielleicht auch nur für eine Nacht. Aber davon möglichst noch mehr. Dazwischen tanzen vielleicht noch ein paar Hofnarren herum. Mit denen will man zwar nichts zu tun haben, aber es sind ja nicht viele. Und während man gerade einen neuen Freund kennenlernt, bieten diese Pausenclowns Gesprächsstoff und genügend Gründe zum Lachen. So läuft das vielleicht. Bis irgendwann so viele Narren kommen und all ihre Freunde mitbringen, und man denkt sich: Früher war irgendwie alles besser.

Früher war alles anders – zumindest ein bisschen. Zum Beispiel gab es da mal Leute in meinem Freundeskreis, die sagten, ich solle mir doch ein Profil bei Myspace machen. Das wäre nämlich ganz schön toll. Ich habe mir ein bisschen Zeit gelassen, und als ich dann endlich mein Profil dort hatte, war Keith Rupert Murdoch da schon der König. So cool kann es damals also längst nicht mehr gewesen sein. Mit Flash-Animation-Overkills und einem Überangebot an angeblichen Macy’s Gift Cards wurde es aber bald noch unerträglicher. Und heute treiben sich dort größtenteils wohl nur noch Hampelmänner rum. Wäre das heutige Myspace ein Club, würde wohl hektisches, viel zu buntes Licht auf ein paar verlorene Seelen auf der Tanzfläche fallen, während sie ohne Geschmack und Rhythmusgefühl zu schlechter Musik zucken. Und die tönt wahrscheinlich aus einer PA-Anlage von Conrad.

Facebook hat glücklicherweise einige Schrecklichkeiten seines Vorgängers aus dem sozialen Netzwerkalltag beseitigt. Es hat aber auch andere geschaffen. Die Bühne der Selbstdarstellung des kleinen Mannes ungemein vergrößert. Einer der positiven Aspekte ist zum Beispiel die Möglichkeit, dem einen oder anderen einen medialen Knebel anzulegen, ohne ihn gleich von den Kontakten zu löschen. Bei diesen Phänomenen geht es aber doch nicht wirklich um gut oder schlecht, es geht vor allem um neu. Auf dem alten Spielplatz kennt man ja schon jeden Sandkasten und jede Schaukel. Und außerdem sind da inzwischen so viele Idioten. Wobei das bei Facebook wohl eher die Funktionsstörungen sind anstatt unerwünschte Zaungäste.

Jeder Club hat seine Halbwertzeit. Die kann man manchmal künstlich verlängern, zum Beispiel durch strenge Einlasskontrollen. Aber selbst das hilft selten ewig. Ich habe es beim vierten Anlauf tatsächlich doch geschafft. Auf der Einladung steht auch, dass es etwas dauern könnte, ich hatte aber nicht genau hingesehen. „Wenn Sie noch nicht auf Google+ zugreifen können, schauen Sie bald wieder vorbei.“ Ich dachte schon, ich hätte einfach die falsche E-Mail-Adresse – kein sogenanntes Google-Konto. Dabei brauchte ich nur etwas Geduld. So steh ich jetzt also im neuen Club und denke: und jetzt? Nichts eigentlich, so richtig interessiert es mich nämlich noch gar nicht. Ich verspüre noch gar keinen Bedarf an neuen Netzwerken und werde Google wohl erst noch mit der Bedarfserzeugung beauftragen müssen. Das Internet und sein kulturelles Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Ich würde gerne ein bisschen warten, bis es sich totgelaufen hat, aber so viel Ewigkeit habe ich gerade nicht zur Hand.

Und dann fällt mir etwas auf: Google+ hat einen Fortschritt gewagt, auf den einige bei Facebook lange warteten. Das Social Network des furchteinflößenden Datensammlers hat mit der Option „Sonstiges“ endlich ein drittes Geschlecht eingeführt. Endlich mal etwas, für das die Zeit wirklich schon lange reif ist.