Das Sónar Festival, die europäische Referenzveranstaltung „für fortschrittliche Musik und Multimediakunst“, tritt seit Jahren mit dem hohen Anspruch auf, der Avantgarde aus verschiedenen Bereichen der Gegenwartskunst ein populäres Forum zu bieten. Das Tagesprogramm fand traditionell in und um MACBA und CCCB statt, den beiden direkt benachbarten Museen für moderne Kunst, mitten im belebten Stadtzentrum. Zwei Innen- und zwei Außenbühnen befanden sich auf dem Gelände. Die Museumsgebäude wurden quasi mit bespielt und waren ständig frei zugänglich, inklusive der sehr interessanten Ausstellungen. Das Nachtprogramm hingegen fand auf dem sehr abseits gelegenen Messegelände statt, zu dem man nur mit dem Taxi, einer obskuren S-Bahn oder per extra zu bezahlendem Shuttlebus gelangen konnte. Trotz großen Besucherandrangs lief die Organisation reibungslos; es gab kaum Wartezeiten, nicht mal beim Einlass. Dort allerdings musste man sich fragen, warum man es jeden Tag ein neues Bändchen gab – und warum dieses nur tagsüber galt und es nachts nicht erlaubt war, das Festivalgelände zwischendurch zu verlassen.
Aber egal: Das dichte Programm ließ größere Pausen sowieso nicht zu, zudem sich meist Live-Acts mit DJs direkt abgewechselt haben, was die Umbauphasen quasi auf Null reduziert hat. Das „Sónar by Day“ legte dabei den Fokus auf Geheimtipps, Neuvorstellungen und Abgefahrenes, so dass man sich am liebsten viergeteilt hätte. Im „SonarVillage“ und im „SonarDôme“ (Foto) gab es sonniges Tanzvergnügen, etwa mit den erstaunlich housigen Little Dragon, mit hervorragenden Sets von Teebs, Eskmo, Offshore und mit Katy B, die sich als eine Art UK-Alternativ-Robyn präsentierte. Das Highlight war hier jedoch der Auftritt von Four Tet: Blauer Himmel, ein baumbestandener, von den Museumsgebäuden und einer alten Kirche eingerahmter Innenhof, ein sehr entspanntes und mitgerissenes Publikum, ein sehr gutes Liveset – schlichtweg großartig. Irgendwie nicht gepasst hat dann jedoch das Brandt Brauer Frick Ensemble, das zu minimal und zugeknöpft in seinen Anzügen war und das Publikum nicht so recht begeistern konnte.
Die Special-Interest-Sachen gingen allerdings im „SonarComplex“ ab, einem dunklen Saal im MACBA. Zum Beispiel das Open Reel Ensemble aus Japan: fünf herzerweichend uncoole Jungs, die auf mehreren aneinander gekoppelten Tonbandmaschinen live loopten, scratchten und rockten – mal Elektrojazz, mal Trance, mal Drum’n’Bass, unterstützt von Drums, E-Bass und Vocals. Beim letzten Stück setzte der supernerdige Frontmann der ultranerdigen Show sogar noch eine Krone auf, als er sich eines der Bandgeräte umhing wie eine E-Gitarre und dieses am Ende „zertrümmerte“, in dem er das Tonband herausriss und um sich wickelte.
Etwas weniger niedlich war die mit Spannung erwartete Performance von Landsmann Daito Manabe, der mit seinem Kompagnon eine Art digitales Drill’n’Bass-Gesichtsballett aufführte. Beide waren mit kleinen Elektroden verkabelt, die über eine hochkomplizierte Maschinerie Klangspuren in Muskelzucken verwandelte, was unter anderem durch die Fernbedienung einer Wii-Spielekonsole gesteuert wurde. Brummte der Bass, runzelten beide die Stirn, bleepte ein Sound, schlossen sich ihre Augenlider. Und als Manabe einen vertrackten Breakbeat abspielte, zuckten ihre Antlitze in einem wahnwitzigen Elektronengewitter. Die auch für das Publikum durchaus anstrengende Performance musste leider nach etwa einer halben Stunde wegen technischer Probleme abgebrochen werden. Ähnliche Klänge, jedoch auf völlig andere Weise, präsentierte auch das Sewing Machine Orchestra: ein einzelner Kanadier zündete eine Art Industrial-Sound-Feuerwerk mithilfe von elektronisch angesteuerten, speziell präparierten Nähmaschinen. Hübsche Idee. Hype Williams, die bekanntlich auch Fans alter Tonbänder sind, präsentierten sich im „SonarComplex“ noch verspulter als erwartet und lieferten ein völlig zerfasertes, strukturloses Durcheinander ab (Hier die BLN.FM-Rezension). Holy Other aus Manchester waren ebenso atmosphärisch, aber deutlich zielgerichteter; ihr Konzert war zeitlupen-sphärisch, von angenehmen Visuals unterlegt und sehr beruhigend.
In der „SonarHall“, einem leider deutlich zu kleinen Auditorium des CCCB, stellte Apparat mit seiner Band die Tracks seines neuen Albums vor – ebenfalls sehnsüchtig erwartet von zahlreichen Spaniern mit Berlin-Shirts. Das war zwar sehr gut, wurde aber durch den darauffolgenden Auftritt von Actress schnell in den Schatten gestellt: Darren Cunningham startete eine massive Klangattacke und brachte das ganze Gebäude mit übermenschlichen Bässen tatsächlich zum Erzittern. A propos „Massive Attack“: an die gleichnamige Band, zu ihren besten Zeiten allerdings, erinnerte stellenweise der Auftritt von Ghostpoet. Das Highlight der „SonarHall“ war dann jedoch das Set von Global Communication, die, versteckt hinter Visuals von Uhrwerken, sehr Downbeat-lastig auflegten und dann mit ihrem legendären 1997er-Drum’n’Bass-Remix von Lambs „Gorecki“ schlossen. Sehr schön!
In den beiden Nächten war der Charakter des Festivals ein anderer: auch hier gab es zwei In- und zwei Outdoor-Bühnen („SonarLab“ und „SonarPub“), letztere waren jedoch eingefasst von riesigen Messehallen und sehr betonlastig, somit eher ungemütlich. Im „SonarPub“ spielten beispielsweise A-Trak und unser guter alter Paul Kalkbrenner, beide eher dröhnig (was auch an der Anlage gelegen haben könnte) und zu aufgekratzt. Allerdings bot an gleicher Stelle die großartige Janelle Monáe ein fantastisches, mitreißendes Konzert mit starker Bühnenpräsenz und sichtbarer Spielfreude. Dementsprechend begeistert war das Publikum – vor allem als sie mit ihrer großartigen Band ein Cover von Michael Jacksons „I Want You Back“ vortrug und dabei wie das jugendliche Original klang.
Der „SonarClub“ hingegen erstreckte sich als Hauptbühne über die gesamte, riesige Größe einer der Messehallen und wartete mit einem hervorragenden Soundsystem und allerlei Lightshow-Brimborium auf. Das wurde auch ausgenutzt, von M.I.A. zum Beispiel, die auf den Overkill setzte und ihr Publikum mit Visuals, Lichtbombast und einem ausufernden Bühnenaufbau plättete, in welchem die kleine Frau jedoch ziemlich unterging. Trotzdem hat ihr Auftritt Spaß gemacht, ebenso wie die hervorragenden Sets von Scuba und Aphex Twin, der sich erstaunlich geradlinig tanzflächenorientiert und unverschroben zeigte. The Gaslamp Killer brachte die Leute auch zum Tanzen, jedoch auf andere und unberechenbare Weise: so waren in sein Set beispielsweise völlig unerwartet Instrumentalpassagen aus Radiohead-Songs oder eigene Raps eingeflochten, was zu einem erstaunlich harmonischen Effekt geführt hat.
Den „SonarClub“ am meisten gerockt haben jedoch Underworld, die sich als Epigonen des Kirmesrave präsentierten (also quasi die britischen Scooter, jedoch mit zahlreichen guten und zu recht legendären Tracks) und ihr Konzert glücklicherweise mit dem sehnlichst erwarteten „Born Slippy“ beendeten, was zu einer regelrechten Eruption im Publikum führte.
Den Gegenpol zu dieser Megalomanie bildete das „SonarCar“, eine Art Kirmeswagen mit DJ-Pult neben einem (echten) Autoscooter und einem ruhigen Gastrobereich, das gemütliche Dorffest also, auf dem Annie mit einem sehr funkigen Set für Stimmung sorgte oder Egyptrixx ihre Midtempo-Dubstep-Bässe abfeuerten. Dass diese ganze Szenerie in einer ebenfalls riesigen, ansonsten völlig leeren und dunklen Messehalle aufgebaut war, verstärkte den Surrealismus der Klänge auf hübsche Weise.
Überhaupt war die Atmosphäre des Sónar-Festivals manchmal recht surreal: außer den klimatisierten musealen Ruhepolen gab es kaum Erholungsmöglichkeiten. Das Musikprogramm war fast durchgängig energiegeladen war und forderte das Publikum dementsprechend. Die verschiedenen Arten der Besucher, mit diesem Anspruch umzugehen, harmonierten jedoch sehr gut miteinander: die Stimmung war friedlich, neugierig und offen. Schließlich fährt man zum Sónar, um neue künstlerische Einflüsse mit nach Hause zu nehmen und sich der Musik hinzugeben – und insofern könnte es kaum einen besseren Ort für dieses Festival geben als das ohnehin vor Kreativität vibrierende Barcelona. Oder eine der immer zahlreicher werdenden Städte, in denen mittlerweile Ableger des Sónar veranstaltet werden. Vielleicht ist ja auch Berlin eines Tages dabei.