Ryuichi Sakamoto und Alva Noto – Summvs

Welche Relevanz kann man einem einzelnen Ton im gegenwärtigen Musikzeitalter zumessen? Wieviel ist er als ein Bruchstück wert, wenn er nicht schnell und nahtlos an das Ganze angefügt wird? In der Musik von Ryuichi Sakamoto und Alva Noto finden wir eine mögliche Antwort: Ein Ton ist ein Stück, ist ein Werk; eine Welt für sich. Ihm muss der Raum zuerkannt werden, in dem er gedeihen kann und als solche Welt erkannt wird. Das war schon immer so. Vor neun Jahren veröffentlichte das DuoVrioon und entzückte Liebhaber minimaler Musik durch strikte, klare und einfache Klavierschnipsel, die minutenlang von meisterhaften Clicks & Cuts umhüllt wurden und sich ebenso meisterhaft diesen wieder entziehen konnten. Kurzum: Das Zusammenspiel war von nahezu makelloser Ästhetik. Es folgten drei weitere Veröffentlichungen von ähnlicher Brillanz – und nun darf dieses Gesamtwerk mit dem fünften Album „Summvs“ ein angemessenes Finale feiern.

Der als „Summus“ auszusprechende Name des Albums ist ein lateinisches Wortgemisch: Summa (dt.: Summe) und Versus (dt.: gegen) spielen darauf an, dass dieses Werk für sich steht – es ist also notwendig, sich von dem Gedanken einer Pentalogie zu lösen. Einfach ist das nicht, denn vieles lässt sich gedanklich an alte Stücke anknüpfen oder klingt gar ähnlich. Die dreiteilige „Microon“-Reihe (Tracks 1, 4 und 9) beweist höchste Konzepttreue durch abstrakt-meditative und von langen Pausen getränkte Klaviertöne. Interessant ist, wie sich innerhalb der Trilogie das Klavier durch Tonerhöhung selbst in den Hintergrund stellt, in der Unhörbarkeit verschwindet und lediglich eine Staubwolke hinterlässt, die in ihrem Klang einer Lokomotive ähnelt. Dem Hörer vom Fach dürfte auch die Mikrotonalität aufgefallen sein: Sakamoto benutzte hier eines der seltenen Klaviere von SAUTER, die 1/16-Ton-Intervalle zulassen – also das heute allgemein übliche System von Intervallen durchbrechen und Töne bis zur Unkenntlichkeit zerlegen. Dank gebührt dem Mexikaner Julián Carrillo Trujillo, der diese Klaviere baute.

Das Herzstück von „Summvs“„Naono“ – präsentiert in etwas mehr als elf Minuten ein düster bis nachdenkliches, dynamisches Wechselspiel, dessen cineastische Atmosphärik und Instrumentierung an Thomas Newman erinnert – ein Geniestreich. Die zwei Versionen von „By This River“ auf der anderen Seite erscheinen etwas bruchstückhaft. Das war schon bei Brian Eno etwas einfältig und ist es leider auch zu großen Teilen auf „Summvs“. Dieser Wermutstropfen sollte aber keinesfalls den Gesamteindruck des Albums verfälschen. „Summvs“ hält das hohe Niveau der Vorgängerwerke und beweist, dass sowohl Ryuichi Sakamoto als auch Carsten Nicolai (alias Alva Noto) von immenser Wichtigkeit für die zeitgenössische Musik sind. Bleibt zu hoffen, dass dies nicht das Ende war.

Preview:

[podcast:]http://media.bln.fm/media/audio/previews/ryuichi_sakamoto_und_alva_noto_summvs_preview.mp3[/podcast]

Tracklist:

  1. Microon I
  2. Reverso
  3. Halo
  4. Microon II
  5. Pioneer 100
  6. Ionoscan
  7. By the River
  8. Naono
  9. Microon III
  10. By The River/Phantom

(Raster-Noton)