Theater soll nicht gemütlich sein – das zeigen schon die Stühle in der Schaubühne. Dann ufert Klaus Wowereit in seiner Ansprache auch noch ins Politische aus. Andererseits ist das eigentlich eine gute Einstimmung für die Uraufführung von Wajdi Mouawads Theaterstück „Zeit“. Es geht hier eben nicht ums Zurücklehnen.
Ein karges Bühnenbild aus einem Türbogen, einem Stuhl, einem Tisch und einer Wanne in Reih und Glied aufgestellt vor einem weißen Vorhang bildet die Kulisse für die Inszenierung des in Beirut geborenen Regisseurs.
Es wird dunkel. Eine athletische Frau tritt in das Stillleben. Gleich einer Amazone oder einem modernen Racheengel schießt sie einen Pfeil ab. Eine bedeutungsschwangere erste Metapher. Sie ist die Bürgermeisterin Fermonts und hat sich zum Ziel gesetzt, die Rattenhorden aus der Stadt zu vertreiben. Es ist Winter und eisige Kälte bis -60° durchdringt die von einer Mauer umringte Kleinstadt im Norden Kanadas, die nur in einem grausamen Märchen existieren dürfte. Dann zieht ein Sturm auf, oder besser: une tempête, das Stück ist nämlich auf Französisch.
„Zeit“ ist die Geschichte von einer zerrütteten Familie, die wiedervereint wird. Der demente Schriftsteller Napier de la Forge liegt im Sterben. 40 Jahre lang hat seine taubstumme Tochter Noella ihre beiden Brüder nicht gesehen. Nun ruft sie sie, um das Erbe ihres Vaters aufzuteilen – ein Vorwand. Das Geheimnis, das sie lüften wird, ist genauso ekelhaft, wie traurig.
Auffallend ist die Körperlichkeit der Figuren, die den Zuschauer ihre Gegenwart im Stück umso stärker spüren lässt. Ein interessantes Detail ist auch, dass alle Schauspieler Erfahrungen als Jäger haben. Mouawad, dessen Stück „Verbrennungen“ in Deutschland eines der meist gespielten Stücke der letzten Jahre ist, hat beide Faktoren bei der Auswahl bedacht. Was das Konzept des Stückes angeht, das bereits im Namen „Zeit“ angedeutet wird, so wirkt es etwas forciert. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Zeit, die die Handlung transportieren soll, sind bei einem chronologischen Handlungsablauf mit zwischengeschobenen symbolischen Szenen, in denen Pfeile abgeschossen werden, die für die nie zurückkehrende Zeit stehen sollen, nicht wirklich ersichtlich.
Trotzdem ist eine große Kunst, dass „Zeit“ eine großartige Geschichte märchenhaft und in poetischen Bildern konstruiert und eine schwer im Magen liegenden Anklagen gegen gesellschaftliche Probleme nur implizit erhebt. Das albtraumhafte Fermont wirkt eben sehr wirklichkeitsfern.
Eine anmaßende These, an der altgediente Theaterkritiker ihre Kunst üben dürfen, zum Schluss: „Zeit“ hat die künstlerische Kraft, sich in die Zeitgeschichte einzubrennen, wenn dem Stück die letzten Minuten abgeschnitten werden. Das Ende ist purer Kitsch.
Zeit: nächste Vorstellung am 5. März 2011 um 20:30h
Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153, Berlin-Charlottenburg, U-Bahn: Adenauer Platz, S-Bahn: Charlottenburg, Halensee