Während draußen die Schneeflocken vom Himmel fallen, fallen im Hamburger Bahnhof die Köttel von den Hinterteilen possierlicher Rentiere. Im Namen der Kunst, versteht sich. Die Tiere sind Teil von Carsten Höllers imposanter Installation „Soma“, die sich zur Zeit als riesiges Phantasiegehege über die historische Halle des Museums erstreckt.
Dass „Soma“ jedoch nichts mit einem Zoobesuch zu tun hat, zeigt sich dem Betrachter schnell. Die Absicht dieser komplexen Kunstwelt ist es, den Besucher mit einzubeziehen, zu verwirren und Fragen stellen zu lassen. Und die Frage, die mit am häufigsten gestellt wird? „Ob man denn auch mal vom Soma kosten dürfe“, antwortet Herr Wegmann, der im Hambuger Bahnhof die Besucher durch die Ausstellungen führt.
Der Mythos um den Rauschtrank Soma der indogermanischen Veden im 2. Jahrtausend vor Christus scheint auch heute in Berlin anzukommen. Die Droge soll ihrem Konsumenten Erkenntnis, Zugang zur göttlichen Sphäre, Glück und Siegeskraft bringen. „Höllers Projekt ist als hypothetisches Doppelblindexperiment angelegt“, erklärt Wegmann. Das meint: „Auf beiden Seiten sehen wir durch einen Metallzaun voneinander getrennte Tiere. Die einen bekommen Soma, die anderen nicht. Wir wissen selbst nicht, wer es bekommt.“
Die Inszenierung ist gelungen. Hier und da kann man Besucher beobachten, die angestrengt versuchen herauszufinden, welches Tier die Droge intus hat und welches nicht. Doch nicht nur Rentiere sind Teil der spiegelbildlich angelegten Installation und des Somakreislaufs.
Hochfrequent trällernde Kanarienvögel, auf Minikopien von Pariser Spielplätzen umherhuschende Mäuse und Fliegen zählen ebenso zu den lebendigen Ausstellungsstücken. Die Hälfte von ihnen bekommt angeblich mit Rentierurin angereichertes Futter. Zum Beweis stehen zu beiden Seiten des Geheges Kühltruhen mit Pilzen, dem in Gläsern abgefüllten Urin und Schneebällen. Die Schneebälle stehen da, weil das geschmolzene Wasser nicht verunreinigt ist, erfahren wir.
In der Annahme, dass im Fliegenpilz die entscheidende Substanz für Soma zu finden sei, stützt sich Casten Höller auf eine These des Hobbypilzforschers R. Gordon Wasson. Der behauptet: Beim Soma-Ritual wird der Fliegenpilz direkt verzehrt. Oder über Urin einer Person oder eines Tieres, die zuvor Fliegenpilze verzehrt hatten, aufgenommen. Könnte es sich dabei um Rentiere gehandelt haben?
Im Gegensatz zu frei in der Natur vorkommenden Rentieren bedürfen die Soma-Rentiere des Hamburger Bahnhofs, alles drei Jahre alte, kastrierte Rentiermännchen aus der Uckermark, besonderer Pflege. Das Rentiergehege wird zwei Mal am Tag ausgemistet. Gefüttert wird auch zwei Mal: Es gibt spezielles Rentierfutter und Heu. „Wir dürfen theoretisch auf 10kg Futter 1g Fliegenpilz füttern, das fressen die Tiere in freier Wildbahn von Natur aus auch gern“, sagt Katja Igiel, die für die Dauer der Ausstellung die Tiere pflegt. Klarstellung folgt: „Tun wir aber nicht.“
Weiterer Teil der unter anderem vom Pharmakonzern Schering unterstützten Installation ist eine überlebensgroße Pilzskulptur und das bereits legendäre Bett, in dem man für 1.000€ eine Nacht im Hamburger Bahnhof verbringen darf und das bereits für 300.000€ einen Käufer gefunden hat. Wem das nötige Kleingeld fehlt, der kann sich „Soma“ auch schon für 8€, beziehungsweise ermäßigt 4€, ansehen. Bei Nebenwirkungen fragen Sie bitte den Mykologen Ihres Vertrauens.
Carsten Höllers Soma: bis zum 6. Februar 2011, werktags von 10 – 18h (außer Mo), samstags von 11-20h und sonntags von 11-18h
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Invalidenstr. 50-51, Berlin-Moabit, S-/U-Bahn: Hauptbahnhof