Ein Kraftwerk als Ideenkasten

Realstadt im stillgelegten Kraftwerk Berlin-Mitte / by Milan Gonzales

Vor Jahren hatte Tresor-Gründer Dmitri Hegemann die Vision, in der Halle hinter dem wiedereröffneten Club eine Art Berliner Tate Modern eröffnen zu wollen. Daraus ist ja  (noch) nichts geworden, denn der reiche Mäzen mit den Koffern voller Geld hat seit 2007 in der Köpenicker Straße auf sich warten lassen. Die Halle im stillgelegten Kraftwerk Berlin-Mitte lag über Jahre leer im Dunkeln – auch wenn der Tresor-Chef immer wieder vom Potenzial des Ortes schwärmte.

Doch diesen Herbst nahm die Geschichte eine Wendung: Mitte Oktober eröffnete das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Ausstellung „Realstadt“ in der riesigen, eindrucksvollen Industrieruine. Und es ist schon ironisch: In der Ausstellung geht es um Visionen und Ideen von Städteplanern und Architekten, die häufig genug nur als Modell existieren, aber nie richtig umgesetzt wurden. In vielen Fällen ist es vielleicht auch besser so. Da ist der dekonstruktivistische Entwurf von Daniel Liebeskind für den Potsdamer Platz aus den 1990ern, der ausschaut wie ein geborstener Kristall – ein künstlerisches Statement, weniger ein ernstzunehmender Bauplan. Oder J. Michael Birns düstere Zukunftsvision der Berliner Stadtmitte „Question of Lust – Der Berliner Lustgarten a.d. 2057“ von 2007: Das Berliner Stadtzentrum mit Stadtschloss und dramatischen Gotham-City-Wolkenkratzern verwandelt er in eine Filmkulisse eines düsteren Science-Fiction-Films.

Realstadt: J. Michael Birn - Lustgarten

Eine demokratische Idee visualisiert hingegen das Parlament der Öffentlichkeit von Hütten und Paläste Architekten. Die Installation ist ein Gewirr von Blättern und Zweigen in einem Strauch, mit zahlreichen Treppen und Plattformen, welche über- und nebeneinander schweben – so unaufgelöst und verschachtelt, dass es an ein Escher-Bild erinnert. Nicht wirklich vorstellbar, dass diese architektonische Skulptur irgendwo gebaut werden könnte. Ebenso unübersichtlich sind die Räume und Winkel des Riff Reloaded (Photo unten) von Klaus Stattmann: Eine Vielzahl von offenen Strukturen schafft Nischen und halboffene Räume, kein Platz wirkt richtig abgeschlossen, so dass man für sich allein sein kann. Es ist damit ganz zeitgeistig eine Utopie der Berliner 90er Jahre, als kollektive Wohnformen noch von vielen als eine ernsthafte Alternative angedacht wurden. Aber schon damals werden die Architekten wohl nie ernsthaft damit gerechnet haben, dass diese Entwürfe irgendwann gebaut werden. Denn es handelt sich um die radikal durchgedachte Vergegenständlichung von Wünschen  – erstmal ohne Rücksicht darauf, ob’s physikalisch überhaupt geht.  Und ob jemand im Alltag überhaupt dort wohnen könnte. Andere Projekte mit der Anmerkung „nicht realisiert“, aber durchaus konkreter, sind das Graffitimuseum in Halensee und das Denkmal der Moderne, ein Vorschlag für eine Alternative zur Stadtschloss-Kopie in der Berliner Mitte.

Realstadt - Riff / photographiert von Milan Gonzales

Die Ausstellung ist ein großes buntes Sammelsurium: Achitektur-Klassiker wie Mies van der Rohes eleganter Wolkenkratzer von 1922 und mit Laser zugeschnittene exakte Modelle aus Achitekturbüros stehen neben naiven, bunten Karton-Häusern, gebastelt von Jugendlichen in Schulprojekten. Schicke, millionenschwere Investitionsprojekte wie die Hamburger Elbphilarmonie teilen sich den Raum mit den phantasievollen, liebevoll-dilettantischen Spreeraum-Kulissen, mit denen das Videokunst-Kollektiv Pappsatt der Initiative „Mediaspree Versenken!“ zugearbeitet hat.

Realstadt im ehemaligen Kraftwerk Berlin-Mitte / photographiert von Milan Gonzales

Dabei schafft es die Ausstellung, alles unterschiedslos aus einem unpolitischen Fachwinkel zu präsentieren: Investorenwünsche, Träume von Architekten, Städteplanern und Sozialingenieuren, Zwischenrufe von den Stadtbewohnern stehen einträchtig als „Projekte“ nebeneinander. Das summiert sich reichlich unstrukturiert zu 250 Exponaten auf den zwei Etagen der imposanten Kraftwerkshalle. Viel Stoff auf einmal – dazu kommt, dass die knappen Beschreibungen zu den Modellen bedeutungsschwer im Planer-Jargon daherkommen. Nicht-Experten dürfte das schnell ermüden. Dennoch lohnen sich die letzten Tage der Ausstellung an der Köpenicker Straße – sie ist noch bis zum 28.11.2010 zu sehen, täglich von 10-20 Uhr, Studierende kommen umsonst rein!

PS. Wie der Ort der Visionen nach Ablauf der Ausstellung genutzt wird, wollte man uns noch nicht verraten. Da bleiben wir dran.

Ehemaliges Kraftwerk Mitte, Köpenicker Straße 70, Berlin-Mitte, S-Bahn: Jannowitzbrücke / U-Bahn: Heinrich-Heine-Straße, bis 28.11.2010

(Alle Fotos von Milan Gonzales)