Diesen Sommer haben wir gelernt: Lohnenswerte Festivals – bezahlbar, gut organisiert und mit einer kompetenten musikalischen Auswahl – gibt’s auch östlich der Oder in Polen (lies hier den Bericht vom Tauron-Festival in Katowice).
Unsound Krakau lockte musikbegeisterte Fans aus den benachbarten Ländern an – mit einem Programm, das dem Vergleich zu etablierten Festivals wie der Club Transmediale in Berlin locker standhalten konnte. Geht’s in Berlin Anfang Februar eher theoretisch fundiert, intellektuell kühl her, hat man sich in Krakau mit „Horror“ ein Überthema ausgesucht, in das erstaunlich viel reinpasst. An neun Tagen, vom 17.-25. Oktober, wurde in quer durch die Stadt verstreuten Örtlichkeiten musiziert, diskutiert und gefeiert.
Auf dem Gelände einer ehemaligen Kosmetikfabrik versorgte der Club Fabryka die Besucher mit musikalischen Highlights und fettigen Würstchen. Die von Krautrock und Horror-Soundtracks beeinflussten Franzosen Zombie Zombie gaben live ihre Interpretation der elektronischen Soundtracks des Horror-Spezialisten John Carpenter zum Besten: psychedelische Vintage-Elektronik. Ansonsten wurde in dem postindustriellen Ambiente (welches von der Atmosphäre an die Berliner Maria am Ostbahnhof erinnert) über zwei Abende ein kompetentes Dubstep-Lin-eup aufgefahren, unter anderem mit dem erst 21-jährigen James Blake, der seinem Dubstep Ambient, R’n’B und Raggaeton beimischte. Splazsh!–Mastermind Actress wagte zu seinen düster-trockenen Produktionen einen Ausdrucktanz hinterm Plattenteller. Außerdem auf der Bühne: die dieses Jahr sehr gehypten Mount Kimbie. Im zweiten Raum spielten derweil an den beiden Abenden auch regionale Helden, beispielsweise Eleven Tigers aus Litauen.
Bemerkenswert waren die abgestimmten Visuals, die sich ordentlich aus dem Fundus der trashigen Horror-Movies der 70er bedienten. Zum DJ-Set von Jigoku und Demdike Stare metzelten auf den großen Leinwänden indische Gottheiten. Das Publikum lauschte den DJ-Künsten derweil interessiert – die Tanzfläche war voll. Besoffene Selbstdarsteller im Publikum? Fehlanzeige.
Für Tim Hecker öffnete die gotische Katherinenkirche im jüdischen Viertel Kazimierz am Donnerstag ihre Türen, was dieser mit einer wahrhaft spirituellen Performance dankte. Über die restlos gefüllten Zuschauerreihen leitete der Kanadier mit einem monotonen Rauschen und Knistern ein grandioses Set ein. Die atemberaubende Akustik im aus dem 16. Jahrhunderst stammenden Gemäuer machte die Musik körperlich brutal erfahrbar: Der Bass drückte auf die Brust, spitze Höhen wanderten wie abtastende Laserstrahlen von oben nach untern durch den Körper. Nach diesem durchaus experimentellen Auftritt folgte ein vom Schola Cantorum Reykjavík Kammerchor unterstütztes Projekt des schwedischen Duos Wildbirds & Peacedrums.
Weiterer Schauplatz: ein modernes Kino, das Kijow-Centrum – ideal für eine fette Akustik, ausgestattet mit einer großen Leinwand für Projektionen. Die ätherische Isländerin Hildur Guðnadóttir begeisterte hier mit Cello und zerbrechlicher, leiser Stimme. Im Anschluss an diese feenhafte Performance wurde das Publikum vom Kalifornier Lustmord unsanft aus der Träumerei gerissen.
Über eine Stunde vergnügte und quälte Lustmord aka Brian Williams, der musikalisch auch an den Soundtracks zu “The Crow” und “Underworld“ und den Computerspielen „Far Cry: Instincts“ und „Assassins Creed“ mitgewirkt hat, mit einer schwer greifbaren Geräuschkulisse, die von kongenialen Visuals begleitet wurde. Milchige, rauchige, feurige und metallische Strukturen wurden hintereinander symmetrisch auf die Leinwand projiziert, was oft an Rorschach-Tests erinnerte. Hier und da zeichneten sich dämonische Schemen und satanische Masken ab. Kein Wunder, dass Lustmord eine seiner vorangegangenen Shows bei einer Zeremonie der Church of Satan in San Francisco zum Besten gab.
Ebenfalls im Kijow-Centrum fand auch das Abschlusskonzert statt: eine Neuvertonung des sowjetischen Science-Fiction-Filmklassikers Solaris von 1972 durch den isländischen Elektroniker Ben Frost. Der Film wurde dafür von Ambient-Legende Brian Eno auf eine recht brutale Art und Weise zu einer Dia-Show mit digitalen Effekten reduziert. Die live von der Sinfonietta Cracovia gespielte Komposition war zwar atmosphärisch dicht, ließ dann aber erstaunlich kalt.
Andere Termine fanden verstreut in der großen Altstadt und im jüdischen Viertel Krakows statt. Die psychedelische Hard-Rock-Band Goblin spielte live in einem umgebauten Straßenbahn-Depot ihre Soundtracks zu dem kunstwilligen Trash-Horror Dario Argentos aus den 70ern, Sound-Effekt-Spezialist Alan Howarth seine legendären Kompositionen für die John-Carpenter-Filme wie „Halloween“ im klanglich wohltemperierten Ambiente des Konzertsaals der Musikakademie Krakow. Anderes fand in den dunklen und tiefen Kellern der zweitgrößten polnischen Stadt statt. Unter einer verrauchten Studentenkneipe spielten an einem sonnigen Samstagnachmittag Noise- und Drones-Produzenten, zur Abschlussparty wurde zu Drum’n’Bass in die Katakomben unterm Festivalbüro geladen.
In einem kleinen überirdischen Indie-Theater hingegen gab’s den größten Schocker des Festivals: die von der ehemaligen Schönheitskönigin und Manson–Bandenmitglied Leslie Van Houten inspirierte Film-Performance „The Pretty One“. In geschmackssicherem, expressionistischem Schwarz-Weiß präsentierten die Belgier Abattoir Fermé und das norwegische Label Miasmah eine detailliert abgefilmte Selbstverstümmelung – im wahrsten Sinne des Wortes ein einschneidendes Erlebnis.
Das Festival hat mit seinem Programm, das sowohl musikalisch als auch visuell überzeugte, Krakow auf die Landkarte des Medienkunst-Betriebs gesetzt. Im Frühling 2011 wird das Unsound-Festival ein zweites Mal nach New York exportiert, nächsten Herbst geht’s in Krakow in eine neue Runde!
Text: Agata Waleczek, Alexander Koenitz / Fotos: Marek Mikuš, Unsound