Geschichten vom Nichts

In Deutschland leben 89 Prozent der Einwohner in Städten und Ballungsräumen. Kein Wunder, dass da das Land zum Traum oder auch Ausdruck des ewigen Wunsches nach Ruhe geworden ist. Ein Schlaraffenland des gepflegten Lebens – in Frieden, Harmonie und Romantik; mit unendlich vielen rotwangigen Großmütterchen, die einen wahlweise mit selbstgemachter Marmelade oder Apfelkuchen vollstopfen. Natürlich nur in der Phantasie der vom modernen, schnellen Leben geschlauchten Städter.

An der Neuköllner Oper läuft in diesen Tagen das Stück „Brachland“, das dem Nichts und der Leere endlich seine Wertschätzung erbietet – denn die zunehmende Verstädterung bedeutet, dass in der Stadt jede Nische bebaut wird, während auf dem Land ganze Landstriche aussterben.

Die Perfomerinnen des Ensembles leitundlause unter der Leitung vom Matthias Rebstock stellen typische, von der Großtstadt genervte Städter da. Um Abhilfe zu schaffen, werden sie zu Raumpionieren und ziehen auf’s Land – immer auf der Suche nach dem perfekten Nichts. Jedoch müssen sie feststellen, dass das Land nicht die heile Welt ihrer Vorstellung ist: „Keine Bioprodukte, nicht mal regional.“ Oder auch: „Wenn ich Telefonieren will, muss ich mich mit ’ner Schaufel auf den Dachboden stellen.“ Sowieso teilt man ordentlich aus: In vielen kleinen Szenen erforscht man die Symptomatik einer in sich widersprüchlichen „Wachstumsgesellschaft“ und nimmt diese ordentlich auf’s Korn. Ob eine Stadtplanerin die ihr heilige Bürokratie besingt oder eine Karrierefrau feststellt, wie wohltuend selbstverordnetes Nichtstun doch ist: „Ich gehe zum Bahnhof und kaufe mir eine Fahrkarte für den Zug mit der größten Verspätung. Und wenn er dann kommt, brauche ich gar nicht mehr einsteigen, weil ich schon so entspannt bin.“ Auf diese Art wird dieses ernste Thema auf eine sehr amüsante Weise mit Lachgarantie beackert.

Auch musikalisch hat das Stück viel zu bieten: Die gut vorgetragenen Songs und Chorstücke führen quer durch die Genres, sind aber sehr passend ausgewählt, machen Spaß oder berühren. Trotzdem sind einige Chorstücke an manchen Stellen zu sehr getragen und einige Gags zu sehr gewollt komisch. Ebenfalls wird die Land-Problematik weit weniger konkret und ausführlich beackert, als das Verschwinden der Brachflächen in der Stadt, sodass das Stück seinem eigenen gesellschaftlichen Anspruch an einigen Stellen nicht gerecht werden kann. Trotzdem verspricht Brachland einen amüsanten und zum Denken anregenden Abend.

Kontrollierte Verwilderung?

„Wenn die Leute wegziehen, dann herrscht dort totale Ödnis: Frust, Alkohol, Gewalt“, sagt Matthias Rebstock im Interview nach der Aufführung. „Brachland“ hat einen sehr ernsten Hintergrund. Viele brandenburger Dörfer und Städte könnten in den nächsten Jahrzehnten bis zu 50 Prozent ihrer Einwohner verlieren. Ein Berater vom Brandenburger Ministerpräsident Platzeck, Thomas Kralinski, sprach in einem Thesenpapier sogar schon von „geordnetem Rückzug“ und „kontrollierter Verwilderung“. Was es braucht, sind sogenannte Raumpioniere wie im Stück, die nach Rebstocks Meinung und auch der des Regionalforschers Ulf Matthiesen jedoch anders staatlich gefördert werden müssten. „Nicht unebdingt mehr Fördergelder, sondern eher Entbürokratisierung und Deregulierung.“, schlägt Rebstock vor. „Die Lebendigkeit einer ländlichen Region oder eines Stadtviertels kann nur von den Menschen kommen, die dort leben. – Jede Art von Planung hat etwas Hierarchisches, was bedeutet, dass die Wirklichkeit und das Leben sich dem Plan anpassen müssen.“

Was bestimmte Nischen, also Freiräume, für Möglichkeiten bergen, zeigt Berlin: „Es gab eine bestimmte Phase nach der Wende, wo Berlin durch diese Brachflächen und den Leerstand unglaublich viele Möglichkeiten für Kreativprojekte bot. […] Und aus diesen Projekten sind schließlich auch zum Teil gut funktionierende Unternehmen geworden, da sind Architekturbüros entstanden, das Radialsystem kommt letztendlich aus so einer Szene. Auch das Tacheles, das auch eine Zeitland ein Magnet für Berlin war.“

Berlin hat sich defintiv seitdem verändert. Es ist hip geworden und damit ein ein Magnet für Investoren. „Es herrscht Investitionsdruck.“ Das merken alle Berliner: Mieten steigen, besetzte Häuser werden entgegen lautstarkem Protest geräumt. Dem MediaSpree-Projekt am ehemaligen Osthafen wurde mit der Aktion MegaSpree kräftig Paroli geboten, und wo momentan eine wunderschöne grüne Liegewiese genau in der Stadtmitte ist, wird man das alte Stadtschloss wieder aus dem Boden stampfen.

Dabei geht es um mehr als Regionalpolitik – „die Stadt als Metapher für Leere“ und das Sehnen nach der Leere, die man sich selbst nicht gönnen kann oder will – wir erinnern uns an die Geschäftsfrau, die gerne auf verspätete Züge wartet. „Man erträgt es nicht mehr, einen Tag nicht online zu sein, nicht dabei zu sein, nicht auf der Party. Keiner kann es mehr wirklich ertragen, mal zwei Tage mit sich selbst allein zu sein, weil er das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben.“

„Brachland – Geschichten vom Nichts“ noch vom 16.-19. September in der Neuköllner Oper. Karl-Marx-Str. 131-133, Berlin-Neukölln. U-Bahn: U7 Karl-Marx-Straße. S-Bahn: Neukölln. Tickets auf der Website der Neuköllner Oper an der Abendkasse, geöffnet von Dienstag bis Freitag und an allen Spieltagen von 15 – 19 Uhr, außerdem telefonisch unter 030 / 68 89 07 77.