Die Musik der WM-Verlierer: Portugal

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Wie sang Nelly Furtado noch zur EM in Portugal vor 6 Jahren: „Wie eine Kraft, die niemand stoppen kann / wie ein Hunger, den niemand stillen kann“ – doch erstens kommt Fräulein Nelly von den Azoren und wird daher als Insulanerin belächelt (ebenso übrigens wie Christiano Ronaldo aus Madeira), zweitens kommt sie ja sogar nur so halb von dort und sorgte mit ihren plötzlichen muttersprachlichen Anwandlungen eher für Belustigung. Und drittens fehlte den Portugiesen leider doch immer etwas „Força”, um es bis ins Finale zu schaffen – dieses Mal scheiterten die „Tugas“ nach dem spektakulären 7:0 gegen Nordkorea ja schon im Achtelfinale an ihren Nachbarn, was in Sachen Dramatik in etwa einer Niederlage Deutschlands gegen eine vereinte Nationalmannschaft aus Holland, Polen und Österreich gleichkommt (oder einfach gegen Italien).

Grund genug also, trotz des frühen Ausscheidens mal einen Blick auf die etwas erfolgreicheren und ernster zu nehmenden Produkte der portugiesischen Musikszene zu werfen, denn das kleine Land befindet sich in einer gesellschaftlich und kulturell sehr interessanten Situation, die immer wieder interessante Blüten hervorbringt. Zunächst einmal wäre da die Lage: Als „Anhängsel“ von Spanien, ganz am Rande Europas, darf man sich das soziokulturelle Klima des Landes als etwas außen vor, etwas entspannt zurückgelehnt vorstellen. Man ist recht weit weg von allem, bildet die „Westcoast“ Europas (Eigenwerbung), möchte zwar gerne teilnehmen, hat aber auch gern seine Ruhe.

Desweiteren hat die Vergangenheit unter spanischer und arabischer Herrschaft deutliche kulturelle Spuren hinterlassen – die tief verwurzelte Folkloremusik, der Fado, klingt für Mitteleuropäer oft ungewohnt orientalisch und ist in der Tat eine einzigartige Fusion verschiedener Einflüsse.

Nach einer wechselhaften Geschichte mit vielen historischen Abhängigkeiten hält man bis heute die Fahne der Souveränität sehr hoch und behandelt die eigene Sprache mit viel Respekt. Man macht also gerne sein eigenes Ding, bewahrt zwar das reichhaltige Erbe der Vergangenheit, legt aber Wert darauf, dass es der kleinen portugiesischen Nation gehört, die in immer noch betrauerten vergangenen Zeiten einst Weltmacht war.

Man darf natürlich auch nicht vergessen, dass Portugal im 20. Jahrhundert von einer Diktatur geprägt war, die den anderen europäischen Schurkenstaaten in wenig nachstand und erst 1974 friedlich gestürzt wurde. Seitdem hat das Land eine gesellschaftliche Isolation aufzuholen, was besonders durch einen starken Bruch zwischen den Generationen deutlich wird. Die heute 30-Jährigen verbindet sehr wenig mit ihren Großeltern, die Eltern stehen oft hin- und hergerissen dazwischen. Doch wird diese Abkopplung von vielen jungen Leuten als Chance verstanden, was oft eine beeindruckende Dynamik erzeugt. Man will anders sein, modern, europäisch, man will zeigen, was man kann – und man will vor allem zeigen, dass in Portugal ein Geist der Avantgarde herrscht und dass man die traditionsverwurzelte Kultur in die Zukunft zu überführen weiß.

Wer sich durch diese Hintergrundbeschreibung durchgearbeitet hat, wird nun besser verstehen, wieso beispielsweise ein großer Trend der modernen portugiesischen Musik das Remixen und elektronische Rearrangieren klassischer (teilweise „heiliger“) Fado-Stücke ist. Ebenso erklärt sich so ein immer noch andauernder Boom des muttersprachlichen HipHop, der vergleichbar ist mit der Explosion des deutschsprachigen Rap in den 90ern.

Nun aber endlich noch zu einigen konkreten Informationen. Neben der üblichen internationalen Popmusik, die bei einem solchen Artikel natürlich außen vor bleibt, feiert man, wie gesagt, gerne seine eigenen Helden – zum Beispiel die „portugiesischen Wir sind Helden“, namentlich The Gift, deren charismatische Frontfrau kürzlich auch einem der zahlreichen Fado-Revisited-Projekte ihre dunkle Stimme lieh. Auch sehr beliebt und für Elektroniker schon eher interessant sind Blasted Mechanism, die sogar schon in Berlin gespielt haben. Über die Mitglieder der Band weiß man quasi nichts, da sie ausschließlich in selbstgebastelten Space-Kostümen erscheinen. Für ihren balkanesken Ethno-Elektro-Rock benutzen sie unter anderem selbstgebaute Instrumente aus Plastikröhren oder anderem Gerät. Blasted Mechanism haben immer wieder die Grenze ins Technoide überschritten – ihre damals sehr gute Remix-Platte von 2000 klingt heute jedoch leider nicht mehr so zeitgemäß.

Eine elektronische Speerspitze bilden sicherlich die Micro Audio Waves, die es in ihrem mittlerweile zehnjährigen Bestehen sogar in eine John-Peel-Session geschafft haben. Hier wird der Stil der portugiesischen Avantgarde sehr gut deutlich: Die animierten Videos zu „Al Pacino“ (ganz unten auf dieser Seite) und „Fully Connected“ (unter diesem Absatz) zeigen den Schwerpunkt auf visuelle Innovation, der überall in der jungen Kunstszene spürbar ist. Musikalisch reiht sich das Trio nahtlos in die Riege des europäischen State-of-the-art ein. Ihr letztes Album „Odd Size Baggage“ ist im Übrigen sehr zu empfehlen.

So mancher wird sich nun jedoch gefragt haben, wo eigentlich Buraka Som Sistema bleiben. Tja, nun – die kennt ja mittlerweile die ganze Welt, und zwar zu Recht. Mit ihrem sehr erfolgreichen Kuduro-Sound („cú duro“ = „harter Arsch“) haben sie die Musik ihrer angolanischen Kolonialwurzeln aus den (durchaus ernst zu nehmenden) Ghettos der Vorstädte von Lissabon herausgeholt, modernisiert und direkt eine Marktlücke geschlossen. Afrikanische Beats treffen auf Elektro und kreolischen Rap – da steckt ein Stück des echten Afrika drin, dagegen kann Shakiras aktuelle WM-Unverfrorenheit natürlich zehn Mal einpacken.

Für diesen Artikel spannender, weil außerhalb des Landes völlig unbekannt, ist jedoch die „Supergroup“ PAUS, deren bisher einziges Video ebenfalls mit Kuduro spielt. Im Clip zum sehr rockigen, fast instrumentalen Stück „Mudo e surdo“ („Stumm und taub“) sieht man eine Gruppe afrikanischstämmiger Jugendlicher, die neben scheinbar desinteressierten Portugiesen vor sich hin turnt – bis nach zwei Dritteln des Songs das Ganze in einem elektroiden Kuduro-Tanz explodiert. Die begeisterte Publikumsresonanz lässt hoffen, dass die Band, die aus diversen Mitgliedern erfolgreicher inländischer Rockbands besteht, bald nachlegt.

Eine weitere Supergroup aus DJs und Produzenten hat sich dem Elektrojazz verschrieben, der besonders in Lissabon ganz gerne gehört wird. Orelha Negra („Schwarzes Ohr“) fallen zwar nicht durch besonders einzigartigen Sound auf, bereichern die Clublandschaft aber durch Tanzmusik Made in Portugal – und zwar solche, die nicht von Rui da Silva oder seinen ebenfalls international erfolgreichen House-Kollegen stammt.

In Porto jedoch, zweitgrößte Stadt und alternativer kultureller Schwerpunkt des Landes, hört man lieber Rap, Rock oder gleich Drum’n’Bass (ja, immer noch). Schließlich handelt es sich, wie der Name schon sagt, um eine etwas raue, enge Hafenstadt, in der ein anderer Wind weht als in der schicken Hauptstadt. Einen kleinen Eindruck der dortigen Szene liefert das Netlabel Abutre.

Soweit also die Vorlesung zur Populärmusik Portugals. Die in mehrerer Hinsicht besondere Situation der Jugend und der modernen Kunstszene entfaltet durchaus einen beachtlichen Innovationswillen, der oft interessante und charmante Ergebnisse zeitigt. Und auch wenn es für dieses Mal schon zu spät ist und der Schlachtruf immer noch von Nelly Furtado kommt – beim nächsten Turnier wünscht der ein oder andere den Portugiesen jetzt vielleicht auch ein wenig mehr „Força”.