Schon mal von „Molekularküche“ gehört? Nun, dabei werden die Zutaten einer jeden Speise mittels moderner Technik in ihre chemischen Bestandteile zerlegt und ihrer originalen Substanz und Form beraubt. Übrig bleibt Geschmack in neuem undefinierbaren Kostüm. Dem Genießer bietet sich ein Geschmackserlebnis in Reinform – abstrakt, avantgardistisch und äußerst unkonventionell. Als Pionier der Molekularküche soll hier Ferran Adrià erwähnt werden, der seinen Gästen Speisen in Schaum- oder Geleeform anbietet und als einer der einflussreichsten Köche der Gegenwart gilt.
Warum dieser Ausflug in die Welt der Feinschmecker, wenn es an dieser Stelle doch darum geht das neue Album von Autechre „Oversteps“ zu besprechen? Weil man die Band, um die es hier geht, in ihrem Ansatz und ihrem Werk durchaus mit der Molekularküche vergleichen könnte. Molekularmusik sozusagen.
Was ist Musik? Was ist Klang? Was sind die Urbausteine davon und was kann man daraus machen? Seit fast 20 Jahren und mit dem nun zehnten Album namens „Oversteps“ befasst sich Autechre aus Rochdale (Großbritannien) mit den Urformen von Klängen. Musik ist für sie pure Mathematik, ihre Herangehensweise durchaus als wissenschaftlich zu bezeichnen. Ähnlich der Speisen aus den Laboren der Molekularküche werden in ihrem Labor – also im Studio – Klänge solange manipuliert, zerfrickelt und wieder zusammengesetzt bis sich etwas Neues und Außergewöhnliches herauskristallisiert. Die Stücke von Autechre präsentieren sich dann in einem klanglich neuem Kostüm, meist sehr unkonventionell, oft schwer verdaulich – aber immer aufregend.
„Oversteps“ kommt im Vergleich zu den Vorgängeralben von Autechre verhältnismäßig zugänglich daher. Es ist eher ruhig, fast atmosphärisch. Man möchte fast wagen das Unwort „chillig“ in den Mund zu nehmen. Aber nur fast. „Fast“ ist sowieso das Wort, das die gesamte Platte begleiten könnte. Denn dieses Album vereint Widersprüche und Gegensätze verschiedenster Couleur, und das ist auch das Interessante und Schöne daran. Mal ist es das Andeuten von Harmonien, die sich dann in abstrakte Klangkonstrukte auflösen. So bietet der Track „Known(1)“ eine melodische Linie, deren Klang an ein Cembalo erinnert, dann jedoch von kaltmetallischen Zwischenrufen eindeutig synthetischen Ursprungs durchbrochen wird. „See on See“ lässt am Anfang so etwas wie eine sanft melodische Struktur durchscheinen, die sich dann doch in ein clusterähnliches atonales, hallgeprägtes Klanggebilde auflöst. Bei einigen Tracks lassen sich nachvollziehbare rhythmische Strukturen ausmachen, die dann doch wieder in polyrhythmische Experimente münden: Der erste Track „R Ess“ etwa startet mit einer rhythmisch anmutenden Melodie, die dann durch den einsetzenden Beat zerlegt und in anarchischer Polyrhythmik aufgelöst wird. Oder der Track „Treale“, der mit einem Downbeat daherkommt, der aber aufgrund der Atonalität der restlichen Klänge in den Hintergrund rückt und kaum auffällt. Ein weiterer Gegensatz wird durch die Gegenüberstellung von organisch und künstlich klingenden Klängen gebildet: einige davon hören sich fast echt an – sei es das schon erwähnte Cembalo in „Known(1)“, Glockenspiel-Klänge in „0=0“ oder gar ein menschlicher Chor am Ende von „D-Sho Qub“. Dem gegenüber gestellt werden harte, heruntergefrorene Klänge, Melodiefetzen oder auch einfach „nur“ Störgeräusche. Diese sind es auch, die dem Album des Öfteren eine gewisse Düsterkeit, vor allem aber auch Tiefe verleihen.
Die Gegensätzlichkeiten, die dieses Album durchziehen, sind so vielfältig und bunt, dass es sich lohnt, immer wieder hinein zu hören. Etwas Neues entdeckt man immer. Es spielt mit Harmonie und Abstraktion, mit Rhythmik und dem gänzlichen Fehlen von ihr, mit Natürlichkeit und harter Künstlichkeit. Es zieht den Hörer anfänglich durch Simplizität und überraschende Zugänglichkeit an und provoziert durch die dann doch immer wieder hervortretende Komplexität.
Damit kein Mißverständnis aufkommt: Autechre sind mit diesem Album nicht weniger anstrengend und herausfordernd. Jedoch kommt der Eindruck auf, als hätten sich die beiden Soundtüftler zu etwas weniger offensichtlicher Verkopftheit bei dennoch gleich bleibendem hohem Niveau entschieden. „Oversteps“ ist ein weiteres experimentell verspieltes Album, den man die Freude am Basteln mit Klang und Soundcollagen anhört. Es ist jedoch melodiöser und dadurch auf subtile Weise verführerischer als viele der Vorgänger. Hat man sich erstmal von dieser melodischen Quasi-Leichtigkeit verführen, becircen lassen, wird man den Autechre typischen avantgardistisch Abstrakten fast unvorbereitet und schutzlos ausgesetzt. Bis dahin ist es aber schon passiert: Man kommt von der Musik nicht mehr los und möchte mehr. Ein schönes, süchtig machendes Album.
Tracks aus dem Album laufen zwischen 22 und 6 Uhr auf BLN.FM!
Tracklisting:
- r ess
- ilanders
- known(1)
- pt2ph8
- qplay
- see on see
- Treale
- os veix3
- O=0
- d-sho qub
- st epreo
- redfall
- krYlon
- Yuop