Die Route startet am Bahnhof Zoo. Meine Gruppe zählt 18 Teilnehmer, die meisten von ihnen sind Touristen. Brandenburger Tor, Museumsinsel oder Fernsehturm kennen sie schon, deshalb haben sie sich für eine Führung von „Querststadtein“ angemeldet, die eine komplett andere Perspektive auf die Hauptstadt verspricht. Die Stadtführer des Projekts sind ehemals obdachlose und geflüchtete Menschen, die in Touren von ca. 2 Stunden ‚ihr Berlin‘ präsentieren.
Unser Tourguide heißt Dieter. Erinnerungen aus seiner Zeit auf der Straße hat Dieter bis heute aufbewahrt und untermalt mit diesen Reliquien aus vergangenen Tagen seine sehr persönlichen Geschichten.
Dieter geht mit uns eine zirka 2,5 km lange Strecke ab, die früher Teil seines täglichen Fußmarsches war, als er noch auf der Straße lebte. Die Route führt an der Technischen Universität vorbei über die Kantstraße, die Wilmersdorfer herunter und endet am Stuttgarter Platz in Charlottenburg.
Touristische Sehenswürdigkeiten gibt es hier keine zu sehen, stattdessen stoppt unsere Gruppe an Plätzen, die früher eine besondere Rolle in Dieters Leben spielen. An dieser Skulptur vor der Universität trocknete Dieter im Sommer seine Wäsche.
Offenherzig erzählt Dieter private Anekdoten. Manche sind witzig, doch einige Geschichten berühren die Teilnehmer sehr. So kam zum Beispiel an einem Platz, an dem wir halten, ein Freund Dieters auf mysteriöse Art ums Leben. Durch diese Erzählungen erhalten wir viele Informationen, die nicht unbedingt zum Allgemeinwissen zählen – zum Beispiel, dass Sozialbestattungen in Berlin lediglich 4 Minuten dauern. Ob das ein Abschied in Würde ist? Auch an anderen Stellen der Führung gibt Dieter viel Wissen über Obdachlosigkeit und Armut weiter.
Hinterher erzählt uns einer der Teilnehmer, dass er sich für die Stadtführung angemeldet hat, um Empathie für die Obdachlosen zu entwickeln. Tatsächlich versteht es Dieter sehr gut die Lebensumständen von Menschen ohne Unterkunft in zirka zwei Stunden zu vermitteln. Bis zu zwanzig Mal im Monat führt er deshalb durch die City West. Die Tätigkeit half ihm auch, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Eigentlich möchte er bis zu fünfzig Mal im Monat unterwegs sein – denn er liebt es anderen Menschen „sein Berlin“ zu zeigen und könnte dann von dieser Tätigkeit seinen Lebensunterhalt bestreiten.
Dieter gehört zu den Stadtführern, die der gemeinnützige Verein Stadtsichten e.V. für sein Projekt „Querstadtein“ gewinnen konnte. Die Gründerinnen Katharina Kühn und Sally Ollech wollen damit eine Brücke zwischen Obdachlosen und Flüchtlingen zum Rest der Gesellschaft schlagen, um Vorurteile abzubauen. Projektleiter Tilman Höffken verrät BLN.FM im Interview, wie das gelingt.
„Querstadtein“-Führungen, sonntags ab 14 Uhr, 6,50€ pro Person
(Fotos: Sebastian Valbuena)