The Knife / Planningtorock / Mount Sims – Tomorrow In A Year

Tomorrow In A Year (2010) / Doppel-CD2009 war Darwin-Jahr. Der Namensgeber wäre 200 Jahre geworden. Weitaus interessanter: sein wichtigstes und bahnbrechendes Werk „Über die Entstehung der Arten“ feierte seinen 150ten Geburtstag, genug Anlass für Ehrungen des Vaters der Evolutionsbiologie. Die Performance-Gruppe Hotel Pro Forma hatte da eine besonders kreative wie extravagante Idee: eine Oper um und über Darwin!

Wer die Vertonung dieses außergewöhnlichen Projektes übernehmen könnte, war schnell geklärt: The Knife sollten es sein, jenes Geschwisterpaar aus Schweden, das mit ihrem avantgardistischen Electro-Pop jenseits aller gängigen Schubladen und ihrer sozialkritischen und die Popindustrie immer wieder vor dem Kopf stoßenden Haltung seit fast 10 Jahren Hörer wie Kritiker begeistern. The Knife holten mit Planningtorock und Mount Sims zwei weitere über den Tellerrand des elektronischen Somethings hinausschauende Künstler ins kreative Boot. Ein Jahr lang arbeiteten die Beteiligten an der Komposition: eine Elektro-Oper sollte es werden, experimentell und explorativ. Sie sollte die gängige Vorstellung einer Oper durchdringen und erneuern. Ein durchaus passender Ansatz, wenn man sich Rezeption und Wirkung von Darwins Werk vor Augen führt. Olof Dreijer von The Knife gab an, dass die Beteiligten keine Erfahrungen mit Opern hatten. Letztendlich ist es aber gerade dieses Nicht-Wissen, die es ihnen ermöglichte, mit einem respektlosen, und dennoch positiven Ansatz an dem Format „Oper“ zu arbeiten und etwas gänzlich Neues zu erschaffen.

In Vorbereitung reisten die Klangkünstler in den Amazonas und nach Island und fingen dort Geräusche und Klänge von Fischen, Tieren und Pflanzen ein. Die Musik wurde anschließend für drei Sänger mit verschiedenen biografischen Hintergründen geschrieben. Mezzo-Sopranistin Kristina Wahlin kommt als einzige Künstlerin aus dem Klassik-Bereich. Lærke Winther arbeitet hauptsächlich als Schauspielerin und Jonathan Johansson ist als Pop-Sänger tätig.

Für das Libretto, also als Textbasis des Musikstückes, wurde nicht nur Darwins Klassiker herangezogen, sondern auch seine Reisetagebücher und Briefe. Letztgenannte Dokumente geben einen Einblick in den Menschen Darwin – und zeigen, dass sein Denkens und Schreiben auch eine evolutionäre Entwicklung nahm.

Tomorrow In A Year - OperNach der Weltpremiere der Oper im September 2009 im königlichen Theater Kopenhagen und dem Start der noch laufenden Tournee erscheint nun Anfang März die Studiovariante der Oper in Form eines Doppelalbums. Wer ein „typisches“ The Knife-Album erwartet, sei hier gewarnt; die einzigen Stücke, die ansatzweise dem bisherigen Stil des Duos ähneln und überhaupt als Popsongs bezeichnet werden könnten, befinden sich am Ende der zweiten CD des Albums. Bis dahin jedoch eröffnet sich eine für viele eher ungewohnte Klangwelt, die sich wie ein Puzzle Stück für Stück zu einem großen akustischen Gebilde aufbaut. Lässt sich der Hörer darauf ein – wozu wir wärmstens empfehlen möchten – so wird er auf eine spannende Reise mitgenommen.

Die erste CD fungiert dabei als musikalischer Spiegel der Forschungsreise Charles Darwins auf der HMS Beagle. Sie war das Schlüsselerlebnis Darwins – die Beobachtungen lieferten die Grundlage für sein Jahre später erschienenes „Über die Entstehung der Arten“. Beim ersten Track „Intro“ sind erstmal nur leise Klick-Geräusche zu hören – ein Tröpfeln, das zwar seinen synthetischen Ursprung nicht verbergen möchte, jedoch durch die aufkommenden Windgeräusche den Eindruck eines Naturschauspiels vermittelt. Dieser Eindruck wird durch die im Vergleich dazu gegensätzlich und hart klingenden metallischen Klänge im darauf folgenden „Epochs“ noch verstärkt, welches durch den erstmals auftretenden Gesang,  hier die gewaltige Stimme Kristina Wahlins, als eine Art Ouvertüre gesehen werden kann. Diese Gegensätzlichkeit – Natur versus Künstlichkeit – zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Stücke. Mit jedem weiteren Track kommen weitere Klänge hinzu, wobei jedes Stück für sich, erkennbar an den Titeln, eine Facette der wissenschaftlichen Arbeit Darwins anklingen lässt.

Tomorrow In A Year - OperBeschäftigt sich die erste CD mit den auf seiner Reise gesammelten Erfahrungen und Erkenntnissen, also mit der Erforschung der Natur und des Lebens selbst, konzentriert sich die Musik der zweiten CD auf den Forscher und Menschen Darwin nach seiner Reise. Dies fängt mit dem ersten Track „Annie’s Box“ an, der die Trauer Darwins um den Verlust seiner früh verstorbene Tochter Annie und seiner eigene Menschlichkeit nachzeichnet. Der Tod, Bestandteil des Lebens und Instrument der Selektion der Natur, macht vor niemanden halt. Eine für Darwin erschütternde Erfahrung, wie der darauf folgende Track „Tumult“ nahe legen möchte. Jedoch auch ein weiterer Baustein zu Erkenntnissen, die Darwin in seinem Hauptwerk ausführte. Die Verarbeitung seiner Notizen und persönliche Erfahrungen im Entstehungsprozesses seines revolutionierenden Hauptwerkes sind dann auch zentrales Thema der nachfolgenden Tracks.

Die zentralen Tracks der zweiten Hälfte, die auch die längsten des gesamten Albums sind, fügen alle vorangegangen, zuvor ohne Erläuterung aufgeführten Klänge wie Bruchstücke eines Ganzen zusammen. Jetzt erst wird so richtig deutlich, dass jeder Ton, jeder Klang, jedes Geräusch kompositorisch festgelegt, nichts dem Zufall überlassen ist. Im Vergleich zu den Tracks der ersten sind diese Tracks zugänglicher, fast – aber nur fast !– poppig. Erst durch den Vergleich mit anderer Musik fällt auf, welch nonkonformistische auditive Kost man bis jetzt genießen durfte: die Musik hat einen so gefangen genommen, dass man sich ihrer Sperrigkeit gar nicht mehr bewusst war.

Das 11-minütige grandiose, ja epische „Colouring of Pigeons“ ist eines der zugänglichsten Musikstücke des ganzen Albums: es besitzt eine klar erkennbaren Songstruktur und verweist durch den erstmals auftauchenden Gesang von Karin Dreijer Andersson auf The Knife, die hinter der ganzen Musik stehen. Das darauf folgende „Seeds“ irritiert fast ein bisschen mit seinem Upbeat-Schlagzeug und geht damit sogar eindeutiger als alle anderen Tracks in Richtung Dancefloor. Der danach gesetzte Titelsong „Tomorrow, in a Year“ greift die erste Gesangslinie, wie auch den Text des ersten gesungenen Tracks „Epochs“ wieder auf, jedoch nicht ohne sie Transformationen, Mutationen ausgesetzt zu haben. Der Gedanke der Evolution wurde hier wörtlich genommen in Musik umgesetzt. Der Refrain bringt es auf den Punkt: „Tomorrow in a year, tomorrow in a million years.“ Der Evolution ist zeitlich keine Grenze gesetzt, sie ist Inbegriff des Lebens selbst.

Es ist wohl deutlich: bei „Tomorrow In A Year“ handelt es sich nicht um ein Album, das sich dem Pop gewöhnten Hörer gleich eröffnet. Dieses Album möchte, ja braucht ungeteilte Aufmerksamkeit. Doch lässt man sich darauf ein, kann man sich darauf gefasst machen, auf einer Reise in eine kaum erkundete Welt der Klänge der Antwort auf oben gestellte Frage „Wie klingt das Leben? Wie klingt Evolution?“ einen Schritt näher zu kommen. Die bisherige einzige Aufführung der Oper in Deutschland – wenn man von der Deutschlandpremiere letztes Jahr in Dresden absieht – ist auf den 5.6 im Stadttheater Münster angesetzt. Wir sehen uns dort!!

Hier eine kleine Preview des Albums:

[podcast]http://www.bln.fm/media/audio/previews/20100225_tomorrow_in_a_year.mp3[/podcast]

Tracklist:

CD 1:

  1. Intro
  2. Epochs
  3. Geology
  4. Upheaved
  5. Minerals
  6. Ebb Tide Explorer
  7. Variation Of Birds
  8. Letter To Henslow
  9. Schoal Swarm Orchestra

CD 2:

  1. Annie’s Box
  2. Tumult
  3. Colouring Of Pigeons
  4. Seeds
  5. Tomorrow In A Year
  6. The Hight Of Summer

(Rabid Records /Cooperative Music / Universal)