Vor nicht allzu langer Zeit wanderten Mixtapes und Radiomitschnitte zwischen Musikkennern von Hand zu Hand. Der Walkman spielte die Lieblingslieder von Kassetten ab, auf die man auch auf dem Weg zur Schule nicht verzichten konnte. Im Kinderzimmer des kleinen Bruders röhrte nervtötend Benjamin Blümchen aus einem knallbunten Kassettenekorder. Doch Internet und MP3 haben die Musikkassetten in den Mülleimer befördert. In den 1990ern wurden noch Millionen Alben auf Band verkauft. 2009 gingen in Großbritannien gerade mal 8443 Stück über den Ladentisch. Die Musikkassette ist tot. Im Ramschversand gibt’s USB-Kassettenspieler, um die vergessenen, verstaubten Tonbänder in MP3s umzuwandeln.
Aber was für Geschäftemacher uninteressant geworden ist, erweckt als aussterbende Art fast automatisch nostalgische Wehmut bei Künstlern und Sammlern. Die Vorzüger des analogen Bands werden wieder gepriesen, das Herumhantieren mit den Hüllen – vorbei die Zeiten, in denen drohender Bandsalat Angstschweiss auf der Stirn auslöste. Denn aus etwas total Gewöhnlichem, was jeder hatte, ist etwas Besonderes geworden. Die Musikkassette, einst als gewöhnlicher Gegenstand in Massen produziert, zuhauf über Schulhöfe und Ladentheken zirkulierend, wird nun als hübsch herausgeputzte Kleinserie zu einem Erinnerungsbehälter.
2009 entstand mit The Tapeworm in London ein kleiner Verlag, der seine Produktionen nur als Musikkassetten verlegt – mit Inhalten, die auf die Besonderheiten dieses Tonträgers zugeschnitten sind. Eine bespielte A-Seite, ein mechanisches Klicken, das davon kündet, dass das Band zu Ende ist, und dann die Fortsetzung auf der Rückseite. Laufzeit pro Seite zwischen 30 und 45 Minuten. Inhalte der Kassetten: Zwei ältere Damen lesen den französischen Postmoderne-Philosophen Jean Baudrillard. Simon Fisher Turner spielt Kompositionen, die er für die Filme des verstorbenen britischen Avantgarde-Regisseurs Derek Jarman angefertigt hat. E-Man, Teil des epochalen Ambient-Elektronik-Projekts Biosphere, veröffentlicht seine ersten, im Studentenwohnheim hinterm Polarkreis aufgenommenen Elektropop-Songs aus dem Jahr 1984.
Die neueste, mittlerweile zwölfte Kassette ist ab Ende Januar beim britischen Versender Touchshop erhältlich. Sie beinhaltet unter dem Titel „Haven’t I Seen You Before“ Aufnahmen von Stefan Goldmann aus Berlin – DJ im Berghain, Techno-Produzent und Strawinsky-Liebhaber. Fünf Stücke befinden sich auf jeder Seite. Es sind Improvisationen des nach eigenen Worten mittelmäßigen Gitarrespielers Stefan Goldmann, die er nach der Aufnahme zerschnippelt, neu zusammengesetzt und mit technischen Effekten verfremdet hat. Die Vorgaben für die Anordung der Musik hat dabei das Format der Musikkassette gegeben – nicht die Musik bestimmte das Speicherformat, sondern umgedreht. (Mehr über die Herangehensweise von Stefan Goldmann auf der Seite von The Tapeworm.) Wie es sich für Sammlergegenstände gehört, ist natürlich auch diese Veröffentlichung streng limitiert: 250 Kassetten gibt es – keine mehr. Eine Veröffentlichung auf CD, Vinyl oder als MP3 wird es nicht geben.
Könnte das ein Vorbote eines Revivals der Musikkassette als Sammlerobjekt für die heimische Glasvitrine sein? Vielleicht. Jede der Kassetten von The Tapeworm sind wunderbar illustriert. Auch wenn die verschrobenen Aufnahmen der einzelnen Ausgaben nur selten abgespielt werden dürften, so eignen sie sich doch vortrefflich zur Präsentation des eigenen, besonderen Geschmacks. Eine Frage der Zeit, bis es noch weitere Kleinverlage gibt, die solche Luxuseditionen herausgeben.
Stefan Goldmann wird „Haven’t I Seen You Before“ beim Elektroakustischen Salon am 25.2.2009 im Berghain live vorstellen, zusammen mit dem finnischen Elektroniker Mika Vainio von Pan_sonic.
(Q: BBC4, Foto: Hardformat)