Das Ergebnis der BLN.FM-Umfrage zum besten Konzert-Erlebnis des Jahres 2009 ist uneindeutig: Nahezu mit gleicher Stimmenanzahl stehen auf den ersten drei Plätzen The Prodigy, Sonic Youth und Fever Ray. Auf der einen Seite alte Helden, die man sich freute, mal wieder oder endlich einmal sehen zu dürfen. Auf der anderen Seite The Knifes Karin Dreijer Andersson mit ihrem im Frühjahr noch jungen Solo-Projekt Fever Ray. Allein schon die Live-Enthaltsamkeit von The Knife schürte die Begeisterung. Und das Konzert im Berghain versprach und hielt mehr Atmosphäre als ein Abend in der großen Mehrzweckhalle.
Die Erkenntnis, dass der Techno-Club Berghain auch ein optimales Live-Venue abgibt, führte zu weiteren gelungenen Konzerten von Phoenix und Phantom/Ghost beim „Spex Live“ im Juni sowie zuletzt den Auftritten von Soap&Skin, Bohren & Der Club Of Gore und auch dem Live-Teil der Warp-Label-Geburtstagsparty mit den Noise-Math-Rockern Battles.
Zweckmäßige Hallen und atmoshärische Arrangements widersprechen sich leider oft. Nach dem Auftritt einer tollen Band im Saallicht zu stehen und sich von Rausschmissmusik bedudeln zu lassen ist nicht gerade ein schöner Abschluss für einen ansonsten guten Abend. Da freut man sich über liebevolle Abgänge wie bei Berlins unterschätztester Pop-Band Super 700, die im Januar ihr neues Album „Lovebites“ im Lido vorstellte. Der proppenvolle Saal leerte sich nach dem gefeierten Heimspiel in einem stetigen Strom strahlender Gesichter zu dem Thema des Stücks „We Will Never Drown“, das endlos aus einem am Bühnenrand stehenden Schallplattenspieler klimperte. Sängerin Ibadet Ramadani hatte, kurz bevor der letzte Ton der Instrumente verklungen war, die Nadel in die Rille gelegt, und die Melodie geleitete die glückliche Menge ins eisige Kreuzberg.
Wie die Grenze zwischen Konzert und ekstatischem Tanz-Erlebnis aufgelöst werden kann, zeigten Animal Collective, deren damals nagelneue Platte Merriweather Post Pavillon in jedem zweiten Jahresrückblick mit Lorbeerkränzen geschmückt wird, ebenfalls im Januar im Postbahnhof. Leider ging der Plan nur einseitig auf. Die drei Psych-Folker taten zwar alles, um die Grenze zwischen Stage und Crowd aufzulösen und mit ihrer nur aus Gegenlicht bestehenden Lichtshow von sich selbst abzulenken, aber das war kein Kraut gegen die totale Glotzäugigkeit der Masse, die lieber starrte, als sich den schamanistischen Qualitäten der Musik hinzugeben. Möglicherweise ist die Angst etwas zu verpassen Schuld an solch verstocktem Verhalten.
Schließlich war 2009 auch das Jahr des privaten Live-Konzertvideos. Mobiltefondisplays sind endlich so groß und scharf, dass man beim Blick durchs Gerät während der Ton-Bild-Aufzeichnug kaum Qualitätseinbußen hinzunehmen hat und nichts verpasst außer dem Gedanken, wie absurd es ist, ein Konzert, das man in Begleitung des eigenen Körpera besucht, dennoch am Bildschirm zu verfolgen. Fans der schwedischen Indie-Rocker Shout Out Louds, die Mitte Dezember ihr 2010er Album exklusiv in Berlin vorstellten – möglicherweise das Konzert mit der größten Handykameradichte des Jahres -, kommen so über Youtube immerhin schon einige Wochen früher an die neuen Songs. Beak, die neue Band von Portishead-Mann Geoff Barrow, ging noch näher an die Fanschaft ran und lud zum In-Store-Gig in den Kreuzberger Plattenladen Space Hall. Im Anschluss an das Konzert gab’s den exklusiven Album-Vorverkauf.
Der Schokoladen und das Lokal gehörten 2009 zu den letzten kleinen alternativen Venues in Mitte. Das Lokal am Rosenthaler Platz, das zwei Jahre lang vor allem eine Menge Hardcore- und Punk-Bands auftreten ließ, gab leider gerade wegen Unrentabilität den Geist auf. Im Schokoladen fanden im zurückliegenden Jahr wieder eine Menge außergewöhnlicher Singer/Songwriter-Konzerte statt. Bei den epischen Akustik-Gitarren-Wunderbarkeiten der mit einer glasklaren Stimme gesegneten Folkerin Tiny Vipers aus Seattle trat man zum Atmen vor die Türe. Nicht nur, weil der prall gefüllte Laden im heißen August aus allen Nähten schwitzte, sondern um die Mucksmäuschenstille nicht zu stören hielt man gebannt die Luft an. Elektro-Derwischin Monotekktoni aka Tonia Reeh zeigte ihr überraschendes Akustik-Piano-Alter-Ego, und die Cinemascope-Indie-Rocker Well Done, Jackson Pollock bewiesen ebenfalls im Schoko-Club, dass man nach Berliner Nachwuchstalenten in der Regel abseits von Band-Contests zu suchen hat. Doch: Auch die Tage des Schokoladens sind möglicherweise gezählt. Im vergangenen Sommer konnte die Kündigung wegen eines Formfehlers verhindert werden. Der neue Countdown lüft Ende Juni 2010 ab, das Kaufangebot des Schokoladen-Vereins wies der Vermieter zurück. Ein Grund mehr, das Projekt zu unterstützten. Der Weg in die Ackerstraße lohnt sich auch aus Neukölln, Friedrichshain und Kreuzberg.
Das größte Live-Comeback des Jahres war nicht der verregnete Freiluft-Auftritt von Robbie Williams vor der Max-Schmeling-Halle (leider kein subversiver Streich gegen die O2 -World), sondern das Berlin-Open-Air. Nach einem Jahr Pause fand das urbane Großereignis auf dem Tempelhofer Flughafengelände statt. Kurze Zeit nach der gescheiterten Besetzung des Ex-Airports überzeugte vor allem das Programm rund um die großen Zugvögel (Peter Doherty und Deichkind). Die Noise-Rocker Health zum Beispiel legten einen tosenden Auftritt vor der imposanten Kulisse aus Stahlschwingen und Landebahnen hin. Hoffentlich konzentriert sich die Veranstaltung im nächsten Jahr noch ein bisschen mehr auf ihren melting-pot-esken Charakter, beweist Fingerspitzengefühl für neue spannende junge Künstler und findet Lösungen für die Problematik mit Lärmschutzvorschriften, die den Sound manchmal in den Ruin trieben.
Ob auf der frisch wieder eröffneten Musikbühne der Volksbühne, in der famosen Kreuzberger Kunstklitsche West Germany oder kleinen feinen Non-Profit-Kulturräumen wie dem Neuköllner Gelegenheiten, auch 2010 wird ein spannendes Konzertjahr werden. BLN.FM hält die Augen offen.