Es liegt nahe zu denken, Kiasmos sei eine Kopfgeburt. Ein Projekt zweier Denker, die aufgeräumte, berechnete und glasklare Musik machen möchten. „Kiasmos“ (chiasmós) ist Griechisch und bezeichnet die rhetorische Figur, zwei Aussagen so miteinander zu überkreuzen, dass sie gleichzeitig eine Einheit bilden und einen Kontrast ergeben. „Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben“, hat beispielsweise Goethe gedichtet. Aus dem Bauch heraus schreibt man so etwas nicht, dazu braucht einen scharfen Verstand.
„Kiasmos“ ist aber auch Isländisch, zumindest unser Kiasmos hier. Das Duo besteht aus Ólafur Arnalds und Janus Rasmussen. Die Beiden sind längst über die Grenzen der kühlen Insel hinaus bekannt. Ólafur ist klassischer Komponist, Filmmusiker und Multi-Instrumentalist.
Janus hingegen steckt hinter dem elektronischen Indiepop von Bloodgroup, die in den letzten Jahren drei erfolgreiche Alben produziert haben.
Hier haben wir also unseren Kontrast: Ein Musiktheoretiker und ein Synthiepopper machen zusammen elektronische Musik mit überwiegend klassischen Instrumenten. Technoide Beats und computergenerierte Sounds werden mit melancholischen Streichern und einem Konzertpiano kombiniert. Das Ganze wird abgerundet durch die Weitsicht und den musikalischen Überblick eines geschulten Komponisten. Seit 2008 sind aus dieser Grundidee immer mal wieder Tracks entstanden. Das erste Album hat ganze sechs Jahre gedauert. Aber dafür ist es Kiasmos gelungen, das zu vollenden, wonach sie sich benannt haben: Ihrer Überkreuzung hört man nicht nur den Kontrast der unterschiedlichen Musiker an, sondern auch die Einheit ihrer gemeinsamen Musik.
Die acht Tracks des Albums – zwischen vier und zehn Minuten lang und daher meist von epischer Breite – offenbaren perkussive Muster, bauen langsam und beständig Spannung auf, zerfasern dann wieder in kühlen, glatten Klavierpassagen oder melancholischen Flächen. Nirgends sind Menschen zu hören. Auf dem gesamten Album gibt es keine Vocals. Die Musik liegt vor einem wie die ausufernde Tundra, irgendwo an der Küste zum Polarmeer. Hier würden sich auch Nils Frahm, Koreless und Ryuichi Sakamoto wohlfühlen. Wenn es bloß nicht so kalt wäre. Die Kopfgeburt, da ist sie wieder: Bei Kiasmos gibt es nichts, was einem das Herz wärmt, alleine sitzt man im Eiswind und bestaunt die Schönheit der Landschaft.
Doch das Interessante daran ist: Da sitzt man gerne. Ólafur und Janus schaffen es, die Langeweile zu umschiffen, die ihrem Konzept auf den ersten Blick inne wohnt. Obwohl die Stücke so mathematisch regelmäßig konzipiert sind wie Eiskristalle, wiederholt sich nichts. Über die 50 Minuten des Albums entfaltet sich ganz langsam eine wirkungsvolle Dramaturgie mit einem lauten Ausbruch inmitten der dunklen Ruhe. Poetisch verschlüsselt steckt das auch in den Titeln der Tracks. Gehalten, geschwankt, geworfen, gebrannt. Tatsächlich liegen dem kluge Gedanken zugrunde, und natürlich kann auch daraus Emotionales entstehen – denn wie war das doch gleich? „Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben“.
(Foto: Promo)