Himbeerdessert im Kling-Klang Studio

BiografieWir reden von Legenden, aber ins Gedächtnis der breiten Öffentlichkeit haben es Kraftwerk nicht geschafft. In den siebziger Jahren wirkte die schräge Robotermusik der Düsseldorfer befremdlich, später haben sich dann unzählige Acts der Popgeschichte wie OMD, Depeche Mode und Madonna die Finger nach Kraftwerks Maschinenmusik geleckt. Heute ist ihr Verdienst durch mediale Lobhudeleien in Stein gemeißelt. Ralf Hütter, Florian Schneider-Esleben, Karl Bartos und Wolfgang Flür gelten als Beatles der elektronischen Musik sowie als Wegbereiter für den amerikanischen Hip Hop. Mehr Huldigung für eine Popgruppe ist eigentlich nicht drin.

David Buckley setzt mit seinem Buch „Kraftwerk – Die unautorisierte Biographie“ noch eins drauf. In acht Kapiteln wirft er einen spannenden Blick hinter die mystische Fassade von Kraftwerk — mit unzähligen Interviewpassagen von Ex-Bandmitgliedern, Weggefährten und Musikexperten. Ein aktuelles Mitglied der Band hat der britische Autor allerdings nicht vors Diktiergerät bekommen.

Kauzige Roboter

Das ist auch mehr als konsequent, denn den Kult um ihre Personen haben Kraftwerk vor allem durch ihr hartnäckiges Schweigen stets aufrechterhalten. In den siebziger Jahren waren Disco, Blues und Schlager angesagt und trotz – oder gerade wegen – ihrer kauzigen Art verschafften sich Kraftwerk irgendwie Gehör. Für die Mehrheit hatte die Band allerdings wenig zu bieten: keinen Frontsänger, mit dem sich die Jugend identifizieren konnte, keine Posen auf der Bühne. Die Texte handelten statt von universellen Themen wie Sex, Liebe und Sehnsüchten von Autobahnen, Motorengeräuschen und radioaktiver Strahlung.

KraftwerkKritiker taten die Musik als „Nicht-Musik“ ab und fanden die Knöpfchendreher in Anzügen und strengen Kurzhaarschnitten zu steif. Und dann waren sie auch noch medienscheu. Kraftwerk schwiegen zu fast allem, interessierten sich nicht für andere Musik und lehnten musikalische Zusammenarbeiten mit anderen Musikern ab. So erhielten David Bowie, der die Jungs auf seiner Station to station Tour als Vorgruppe dabeihaben wollte, und auch Michael Jackson, der für eine gemeinsame Produktion anfragte, eine eiskalte Abfuhr.

Taschenrechner statt E-Gitarre

Kraftwerk waren nicht die ersten, die an Synthesizern herumtüftelten, aber sie gehörten zur ersten Popband, die elektronische Elemente ins Zentrum ihrer Arbeit stellten und nicht nur als Beigabe ihrer Musik sahen. Statt egozentrischer Soli klackerten die Roboter auf selbstgebauten Klangmaschinen und Drum Pads herum und tippten im Takt auf Taschenrechnern. Auch die traditionelle Songstruktur mit Strophe und Refrain hat das Quartett über Bord geworfen. E-Gitarre, Bass und Schlagzeug wurden gegen durchgehende Musikteppiche und Klangfarben mit Echogeräten, Bändern, Flöten und Vocodern getauscht. „Wir mussten unsere musikalische Kultur neu definieren. […] Ende der Sechziger hatten alle deutschen Künstler dieselben Probleme. Schriftsteller, Regisseure, Maler … alle mussten sie eine neue Sprache erfinden“, hatte Kraftwerk-Boss Ralf Hütter einst gesagt.

Insbesondere von der schwarzen Musikszene in den USA bekam die Band viel Lob und Anerkennung. Afrika Bambaataas Track „Planet Rock“ (1982), beeinflusst durch die Kraftwerkmelodie von „Trans Europa Express“ und den Beats von „Nummern“, gilt für viele als der erste Hip-Hop-Track überhaupt.

Himbeerdessert für die Roboter

Die Türen zum berühmten Kling-Klang-Studio blieben dem Autor der Biografie versperrt. Dennoch versucht er den Studioalltag der Band nachzuzeichnen. Durchzechte Nächte, in denen mit viel Bier und Kippen gejammt wurde? Fehlanzeige, Kraftwerk gingen nur ins Studio, um zu arbeiten, und das mit äußerster Disziplin. „Manchmal gab Florian Quark, Schlagsahne und gefrorene Himbeeren in eine Schüssel, mit Zucker und Vanille. Er verrührte alles und stellte es in den Kühlschrank. Das war ein fantastisches Dessert“, erinnert sich Flür.

Hierarchien in der Band

Interessant wird es an den Stellen, wo Buckley auf die internen Beziehungsstrukturen zwischen den vier ursprünglichen Bandmitgliedern eingeht. Ralf Hütter, das bis heute einzig verbliebene Gründungsmitglied, war Macher und Kopf zugleich. Zusammen mit Florian Schneider-Esleben gab er den Ton an. Flür und Bartos hingegen fühlten sich wie Angestellte und zogen auch finanziell den Kürzeren: „Ich glaube, ich habe in den ganzen vierzehn Jahren, die ich in der Band war, nicht eine einzige Mahlzeit bezahlt. Es war leicht für sie [Ralf und Florian], zu bezahlen. Sie wussten, dass sie uns lausig bezahlten, also zahlten sie unser Essen“, so Flür weiter. Die fehlende Mitbestimmung und Anerkennung als Mitkomponisten und Musiker in der Band waren ausschlaggebend, dass die beiden ausstiegen. Warum Florian Schneider-Esleben ab 2006 kein Roboter mehr sein wollte, bleibt offen.

Fazit

Autor David Buckley, der sich selbst in seiner Biografie als großer Kraftwerkfan outet, bastelt aus vielen Alltagsanekdoten, interessanten Zitaten von Weggefährten und zahlreichen musikalischen Querverweisen ein interessantes, wenn auch nicht vollständiges Bild vom musikalischen und sozialen Innenleben der Band. Manchmal schweift Buckley zu sehr ab, etwa, als er überleitend zum ersten Kraftwerkalbum „Autobahn“ sagt, die Deutschen würden ihre Autos lieben. Am Ende gesteht der Autor überraschenderweise ein, dass Kraftwerk nach den ganzen Austritten und kaum neuer Musik „mittlerweile weniger eine Band als vielmehr eine Idee“ seien. In der Tat sind ihre prägenden Zeiten lange her, auch wenn ihr Einfluss noch heute zu spüren ist. Vielleicht hat es etwas wohl gemeint Abschließendes, wenn Kraftwerk Ende Januar 2014 einen Grammy für ihr Lebenswerk überreicht bekommen – übrigens ebenso wie die Beatles.

Kraftwerk — Die unautorisierte Biographie (David Buckley), erschienen im Metrolit Verlag (2013)

oberes Bandfoto: Nutzer P1r bei flickr