Vier Minuten und neunzehn Sekunden sorgen derzeit für viel Diskussionsstoff in der Berliner Politik. Das Amateurvideo aus der Silvesternacht zeigt Menschen, wie sie im Holocaust-Mahnmal südlich des Brandenburger Tores feiern, sich küssen, schlafen und an die Säulen pinkeln. Die Online-Ausgabe der großen israelischen Zeitung „Haaretz“ thematisiert jetzt die „hässlichen Deutschen“. Partylaune an einen Ort, der an sechs Millionen ermordete Menschen erinnern soll – anscheinend ist für viele dieser Teil der deutschen Geschichte schon vergessen. Wie soll man darauf reagieren? Bei Berlins Behörden schiebt man wie so oft die Verantwortung hin und her, schreibt der Tagesspiegel.
Das Problem ist nicht neu – es besteht seitdem das Denkmal für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Regulär sollen zwei Sicherheitsleute das unübersichtliche 800 qm große Terrain überwachen. Sie dürfen freche Besucher maßregeln: „Kommen Sie da runter!“, „Nicht über die Stelen hüpfen!“ oder „ Hier ist fotografieren verboten!“ Dass es völlig unmöglich ist, auf diese Weise „unsachgemäße“ Nutzung abzustellen, belegen Tausende von Fotos im Netz.
Selbst brave Promis wie Patrick Lindner machen in dem Denkmal gedankenlos Schnappschüsse und verbreiten sie über soziale Netzwerke. Immerhin ernten sie dafür einen Shitstorm. Das „Vice“-Magazine will sogar eine überproportional hohe Dichte von Fotos auf dem schwulen Dating-Netzwerk grindr entdeckt haben, in denen sexsuchende Männer die Granitklötze als Hintergrund zur Präsentation ihrer körperlichen Vorzüge nutzen.
Sechs Wachleute gegen eine Million Partygäste im Silvesterrausch
Zu Silvester wollte die Gedenkstätte besser gerüstet sein und hat die Anzahl der Aufpasser für das Denkmal auf sechs erhöht. Nicht bedacht wurde, dass knapp 200 Meter entfernt etwa eine Million Menschen Silvester feierten. Einer der Wege von dieser Großveranstaltung führte am Gelände des Holocaust-Mahnmals vorbei.
Vielleicht ist das eigentliche Problem des Denkmals das Konzept. Der Stelenwald lädt zum Klettern, Versteckspiel und Fotografieren ein, er schreit fast danach. Auch Erwachsene empfinden die Gänge mit den zahlreichen variierenden Blickwinkeln wie ein Spielplatz. Hobbyfotografen lieben das Mahnmal, weil es dort fast unmöglich ist, ein schlechtes Foto zu machen. Dass es sich dabei um ein Denkmal handelt, wird durch Tafeln und den „Ort der Erinnerung“ mitten im Feld sichtbar. Es gibt zu wenig Abgrenzung, keinen regulierten Zugang – einfach zu wenig, was amüsierwilligen Berlinern und Touristen sofort auf den ersten Blick den Sinn des Ortes vermittelt.
Der Mißbrauch des Denkmal weist darauf hin, dass es in Städten wie Berlin viel zu wenige zentrale und öffentliche Plätze gibt, in denen moderne Architektur keinem vordergründigen Zweck – egal ob politisch oder kommerziell – dient. Die Vorkommnisse zu Neujahr zeigen aber auch, dass bei der Berliner Verwaltung wenig Sensibilität herrscht, wenn es um den Umgang mit dem Denkmal in der Mitte Berlins geht. Sechs Wachleute, um alkoholisierte Besucher der Neujahrsfeier im Zaum zu halten – das ist zu wenig. Vielleicht muss das Denkmal bei solchen Veranstaltungen komplett abgesperrt werden. Ansonsten dürften sich die reißerischen Storys noch oft wiederholen, in denen es heißt, dass mitten in Berlin „German Hooligans“ auf das Gedenken ermordeter Juden pinkeln.
(Update 9.1.2013)
Das Silvestervideo provoziert weiter Statement von Politikern. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) will das Gelände komplett überwachen lassen, berichtet der rbb. Stelenpinkler können mit Anzeigen rechnen. Dabei begehen sie damit juristisch keine Straftat, sagt die Polzei. Uwe Neumärkter, der Direktor der Stiftung „Denkmal für die Ermordeten Juden Europas“ , möchte das Gelände einzäunen. Dazu will er Gespräche mit zuständigen Behörden führen.
(Foto: CC BY-SA 3.0 © Anteeru)