Wo ist der kulturelle Nabel der Welt? Auf diese etwas bekloppte Frage würden viele hippe Mittzwanziger mit verklärtem Blick und Ehrfurcht in der Stimme „Berlin“ antworten: Die Stadt biete Freiheit und sei ein „Mekka der Subkultur“ und des alternativen Zusammenlebens.
Das Wunschbild dieser viel beschworenen Atmosphäre und des liberalen Freiraums liegt im Berlin der 1990er Jahre. Gerne raunen sich ältere Clubgänger und Künstler zu, wie spannend diese Zeit war. Das heutige Berlin sei nur noch ein schwacher Nachhall dieser kreativen Explosion, klagen sie – wie kürzlich bei einer Diskussion im Bethanien. Im dortigen Kunstraum Kreuzberg widmet sich noch bis zum 25. August die Ausstellung „Wir sind hier nicht zum Spaß!“ der Subkultur der 1990er. Die De:Bug-Mitbegründer Paul Paulen und Stéphane Bauer geben mit der Schau einen Einblick in die Szene, deren Ideale und Ideen noch heute Berlin prägen.
Nach dem Fall der Mauer befand sich Berlin seit November 1989 im Umbruch. Die Grenzen und die Kontrollen waren weg. Die Gefahr eines Krieges auch. Westberlin musste sich auf weniger Geld einstellen, weil die Bundeshilfe, die von 1961-89 insgesamt 184 Milliarden Deutsche Mark in die Stadt pumpte, wegfiel. Im Osten wussten die Behörden nicht, wie sie die neuen Gesetze auslegen sollten. Das entstandene Machtvakuum eröffnete der „Generation X“ Freiräume, die zuvor in der begrenzten Welt auf beiden Seiten der Mauer kaum vorstellbar waren. Teils anti-autoritär erzogen und popkulturell vorgeprägt, der Gefahr eines Atomkriegs entronnen, hatte junge Leute keine Lust auf den Konsum von Massenware aus Karstadt und Kaufhof. Für sie boten leerstehende Fabriken und eine teils verwahrloste Infrastruktur den idealen Abenteuerspielplatz. Man besetzte Häuser, eröffnete mit minimalem Budget und ohne Genehmigung Kunstgalerien, Bars, Clubs und Plattenlabels. Schnelle Rhythmen mit durchdringender Bassdrum und einem euphorischen Vibe verkörperten als „Sound der Wende“ das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Für ein paar Jahre entstand mitten in der Stadt eine Parallelgesellschaft, die sich nicht um den real existierenden Kapitalismus drumherum kümmerte.
Schnöde Nostalgie oder Ausblick in die Zukunft?
Der Kunstraum Bethanien stellt nun allerlei gesammelte Reliquien dieser Zeit wie Flyer, Eintrittsbändchen und Garderobenmarken von illegalen Raves aus. Auf einem Zeitstrahl im Flur können die Besucher ihre Erinnerungen festhalten – so entsteht ein kollektives Gedächtnis der 1990er. Eine Videoinstallation von Daniel Pflumm zeigt in Endlosschleife den Abriss des „Elektro“, eines legendären Miniclubs, den Pflumm selbst als eine Mischung aus Bar, Club und Kunstausstellung betrieb. Martin Eberles Fotos der Galerie „berlintokyo“, dem „modernsten Keller Europas“, erinnern an Zeiten, in dem in Berlin-Mitte zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße an jeder Ecke Kunsträume einluden.
Herz der Ausstellung ist aber ein Hörspiel, bei dem 30 Protagonisten der Szene, darunter Flyerkünstler Jim Avignon, von Situationen, Orten und Ideen erzählen, die sie damals prägten. Die Audio-Collage montiert dabei die Erinnerungen zu einem kollektiven Bewusstseinsstrom, die Sprecher nennen weder ihren eigenen Namen, noch die der Orte, über die sie sprechen. Ein Zeuge berichtet von den ersten illegalen Raves in einer verlassenen Fabrikhalle, auf dem eine Woche lang ohne Pause die Feierhungrigen abfeierten. Ein anderer erinnert sich, wie er zusammen mit anderen eine leerstehende 200-Quadratmeter-Wohnung besetzte, aus der dann eine Massen-WG wurde.
Einiges in der Ausstellung mag auf den ersten Blick wie eine verklärte Ode an die Vergangenheit wirken, von Szene-Insidern für Insider gemacht. Doch besonders in der Installation wird der Zeitgeist der 1990er auch für jene erlebbar, die nicht dabei waren. Der retrospektive Blick der Szenemacher auf sich selbst bietet dabei auch eine Diskussionsgrundlage über die Zukunft des subkulturellen Berlins von heute. Im Begleitprogramm zur Ausstellung stellen somit folgerichtig Künstlern und Musiker Bücher und Filme vor, die einen Blick in Gegenwart und die Zukunft wagen.
Kommende Termine:
Dienstag, 6. August 2013, 19 Uhr: „I’m glad I can’t remember“ – Filmscreening und Gespräch mit Tine Neumann
Donnerstag, 8. August 2013, 19 Uhr: „Die ersten Tage von Berlin – Der Sound der Wende“ – Buchpräsentation und Gespräch mit Ulrich Gutmair
Dienstag, 13. August 2013, 19 Uhr: „Wem gehört die Stadt?“ – Gespräch mit Jesko Fezer, Lutz Henke und Dolly Leupold
Kunstraum Kreuzberg / Bethanien, Mariannenplatz 2, Berlin-Kreuzberg, U-Bahn: Kottbusser Tor, Öffnungszeiten: noch bis 25. August, täglich 12 – 19 Uhr, Eintritt: frei