„Hallo, Hirn.“ – „Ja, bitte?“
„Ich möchte schlafen.“ – „Na und?“
„Könntest du bitte Ruhe geben?“ – „Steuererklärung!“
„Was?“ – „Na, deine Steuererklärung. Du hast sie noch nicht eingereicht.“
„Ja, vielen Dank! Das weiß ich selbst!“ – „Das könnte aber Probleme geben!“
„Geht’s noch? Ich frag dich, ob ich schlafen kann und du kommst mir jetzt mit meiner Steuererklärung??“ – „Verrückt oder? Dabei hast du morgen doch wichtige Termine. Und es ist schon drei Uhr früh!“
„Ja, ich weiß! Deshalb sollst du ja auch endlich Ruhe geben“ – „Sorry, aber ich tu‘ hier nur meine Arbeit!“
„Hör‘ bitte auf damit!‘ – „Haha! Hirn sein macht so Spaß! Nein, Spaß beiseite! Ich lasse dich ja gleich schlafen. … Aber wär‘ schon doof, wenn du jetzt auf Toilette müsstest?!“
Vielleicht ist es euch schon aufgefallen: Wir sprechen innerlich ständig mit uns selbst. Mal mahnt uns eine innere Stimme zu mehr Disziplin, mal macht sie uns Vorwürfe, mal kritisiert sie uns oder erinnert uns an wichtige Sachen. Dieses Phänomen, welches in der Regel eher unbewusst abläuft, können wir nutzen, um uns besser kennen zu lernen, meint Olivia Güthling. Die Künstlerin und Grafikdesignerin hat sich in einem Selbstexperiment mit ihrem Bewusstseinsstrom auseinandergesetzt.
Im Februar reiste sie in den Himalaya, um in der Ruhe des tibetischen Hochlands acht Tage lang jeden ihrer Gedanken auszusprechen. Allein und ohne Ausweichmöglichkeiten wollte sie herausfinden, was genau diese Stimmen in ihrem Kopf ihr eigentlich den ganzen Tag über erzählen. In einem Projekt aus Design, Kunst, Tanz und Musik hat sie nun 114 Stunden dokumentiertes Kopfkino verarbeitet. Vergangene Woche gab sie in der Platoon Kunsthalle erste Einblicke in ihre Gedankenwelt.
In einem Buch hat Olivia ihre Erfahrungen auch gestalterisch dokumentiert. Statt eines gewöhnlichen Reiseberichts fand sie ihre ganz eigene Darstellungsform. Auf dünnem Transparentpapier gibt es neben Tagebucheinträgen detaillierte Grafiken und Illustrationen. Jede Seite ist ein kleines Grafikdesign-Meisterwerk und transportiert eine Botschaft, die mindestens so informativ ist wie der Inhalt der Textpassagen. Auf die Frage, ob es ihr wichtig sei, dass andere von ihren Entdeckungen profitieren, erklärt sie, dass dies bei ihrem Projekt nicht im Vordergrund stand: „Am Anfang der Reise gab es ein ganz konkretes Konzept. Ich hatte mir das Ziel gesetzt, alles laut auszusprechen, was mir durch den Kopf geht, und meine Erkenntnisse anschließend zu abstrahieren.“ Als Kommunikationsdesignerin hatte sie zudem den Anspruch der visuellen Umsetzung.
„Neben der künstlerischen Aufarbeitung habe ich während des Experiments viel über mich erfahren. Wer seine Gedanken beobachtet, lernt sich besser kennen!“ Sie versucht in Worte zu fassen, wie es sich anfühlt, wenn man sich seine eigenen Gedanken nicht erklären kann: „Ich habe mich dann gefragt: Wieso kommt dir das jetzt in den Kopf? Das ist doch total unwichtig! Oder vielleicht doch nicht? So unwichtig kann es ja nicht sein, sonst würde ich nicht daran denken. Oder?“
Ganz schweigen wollten die Stimmen im Kopf auch nach den acht Tagen nicht. Dennoch empfiehlt Olivia Güthling ihr Selbstexperiment weiter. Sie beschreibt ihren Bewusstseinszustand am Ende der Reise zumindest als „ruhiger“. Meditations- und Yogaexperten werten das als großen Erfolg.
Sehen wir es mal so: Die absolute „Ruhe im Kopf“ wird im Buddhismus mit der „Erleuchtung“ gleichgesetzt – und für die braucht man in der Regel vermutlich etwas länger als acht Tage.
Alle weiteren Informationen über die Künstlerin und ihr Projekt findet ihr auf www.oliviaguethling.de .
Fotos: Marcus Bläsing