Musik als „Schmutz“ zu bezeichnen, klingt komisch. Dennoch hat sich das englische Wort „grime“ als Begriff für ein Musikgenre aus England durchgesetzt, das Anfang der Jahrtausendwende entstanden ist. Aus dem East End Londons, das den Ruf eines sozial schwachen Stadtviertels hat, kamen die ersten Produzenten und MCs, die in ihrer Musik Elemente aus Rap, Dancehall und elektronischer Musik vereinten. Zugleich überschnitt sich die Geburt von Grime mit dem vorübergehenden Ende von UK Garage und den ersten Wehen von Dubstep.
Schnell wurde die Grime-Szene in der Öffentlichkeit als Verursacher ansteigender Gewalttaten wie Schießereien verantwortlich gemacht und das Veranstalten von Parties erschwert. Trotzdem erreichten Produzenten wie Dizzee Rascal oder Wiley weit über die lokale Szene hinaus Bekanntheit. Der Track „Wot u call it?“ von Wiley wurde gleichzeitig eine Hymne für die Szene als auch ein Chart-Erfolg. „Schmutzig“, oder vielmehr rauh und hart klingen die in englischem Dialekt gerappten Vocals auf ebenso roughen Instrumentals mit bauchigen Bassdrums, peitschenden Claps und unheimlichen Synths.
Vor kurzem erschien auf dem Londoner Label Big Dada die Compilation „Grime 2.0“, die sich der gegenwärtigen Bandbreite von instrumentalem Grime widmet, der gut ohne Vocals auskommt. 34 Tracks von verschiedenen Produzenten sind versammelt und neben klangvollen Namen wie Youngstar, Wiley oder MRK1 sind auch unbekanntere Produzenten vertreten. Es lohnt sich, einige von ihnen im Auge zu behalten, nicht nur für Grime-Fans. Grund genug, fünf davon näher zu beleuchten.
Visionist – Dem Times
Wer in Berlin aufmerksam den Basskosmos verfolgt, konnte Ende Mai in den Genuss eines Sets von Visionist im St. Georg kommen. Louis Carnell wuchs in London auf und hat Grime von Kleinauf in sich aufgesogen. Auch als er als Teenager die Hauptstadt in Richtung Nottingham verließ, verfolgte er die Entwicklung des Genres und begann als MC und Produzent auch aktiv daran teilzuhaben. Mit seinen Veröffentlichungen zwischen Grime, Techno, Footwork und Trap gehört er zu den aufstrebenden Künstlern, von denen man noch einiges hören dürfte. So gehört „Dem Times“ zu den besten Tracks der „Grime 2.0“-Compilation, der klassisch mit magenmassierenden Bässen, Claps und fiesen Synths an klassische Grime-Produktionen anknüpft.
Gumnaam – Desi Bullet
Der aus Haarlem in den Niederlanden stammende Produzent und DJ Gumnaam verbindet in seinen Tracks meist Elemente aus Dubstep und Jungle. Er versteht sich aber auch auf Grime, wie er mit seinem Track „Desi Bullet“ beweist. Dabei treffen Sägezahn-Bässe auf ein wahres Drumgewitter. Mit Riddim And Culture hat er auch sein eigenes Label auf die Beine gestellt. Dass er seinen Wohnsitz inzwischen nach London verlegt hat, scheint bei seiner musikalischen Ausrichtung nur konsequent.
Inkke – L-O-K
Eine der Kuriositäten auf „Grime 2.0“ kommt von Inkke. „L-O-K“ beginnt mit schwelgenden Synths und zurückhaltender Percussion, bevor der Subbass einsetzt und sich so etwas wie Akkuschraubergeräusche in den Vordergrund drängen. Was gelesen etwas albern klingt, gibt sich in der Praxis interessant, vor allem, weil immer mehr Klangeschichten dazu kommen und der Akkuschrauber dann doch in den Hintergrund gerät. Russell Inkke Paterson kann bislang zwar erst eine offizielle Veröffentlichung, die EP „Pink Dot“ verzeichnen, die mit ihrer Vielseitigkeit zwischen Southern-Rap, Dubstep und Grime aber durchweg überzeugen kann. Neben seinem Musikprojekt kanalisiert er seine Kreativität als Grafikdesigner und Illustrator auch in sichtbare Formen wie Plakate, Animationen oder Illustrationen.
J Beatz – Shotta Krew
Mit zwanzig Jahren gehört J Beatz zum Nachwuchs der Grime-Szene in London. Bei seinem Track „Shotta Krew“ auf der Compilation benutzt Jason Jules bedrohliche Streicherklänge, kombiniert das mit einem Beat zwischen Trap und Grime und unterlegt das mit einem brachialen Subbass. Der Track wirkt äußerst fokussiert, was kein Wunder ist, hat der Produzent doch schon für Grime-MCs wie Kano gearbeitet und bekommt regelmäßig Airplay auf Radiostationen wie dem ehemaligen Piratensender Rinse FM oder dem staatlichen Sender BBC Radio One.
Shy One – 927
Viele der Produzenten, die auf „Grime 2.0“ vertreten sind, beschränken sich keinesfalls auf das namengebende Genre. Shy One aus London steuert mit „927“ einen Track bei, der zwar gut in die Kategorie passt, würde sich aber mindestens genauso in 2-Step, Garage oder UK Funky heimisch fühlen. Das ist auch ihrem Debütalbum „Bedknobs and Boomkicks“ anzuhören, das Ende vergangenen Jahres auf Scratcha DVAs Label Dva erschienen ist. Dabei treffen ausgefeilte Beats, breaky oder geradeaus, auf verschwurbelte Synths und funkige Subbässe.
Jede_r dieser Produzent_innen steht exemplarisch für unterschiedliche Zugriffe auf Grime und zeigt mit seinen, beziehungsweise ihren, Tracks, welche vielgestaltigen Formen diese Musik annehmen kann. Auf verschiedene Weise beeinflusste das Genre die Produktionen und wird auch zukünftig als Inspirationsquelle dienen. Ob das nun als Grime 1.0, 2.0 oder einfach nur Grime bezeichnet wird – geschenkt. Die vorgestellten Produzent_innen und die Compilation, deren Tracks von Big Dada-Gründer Will Ashon und dem Musikjournalisten Joe Muggs ausgewählt wurden, machen jedenfalls Lust auf mehr.
Die Compilation „Grime 2.0“ ist auf Big Dada erschienen.