The Knife – Shaking The Habitual

The Knife - Shaking The Habitual - CoverEs begann mit dem Video „Full Of Fire“: Eine Frau um die Vierzig pinkelt zwischen zwei parkende Autos, als wäre es das normalste der Welt. Ein androgyner Blonder erwartet auf einem Parkplatz seinen Sexpartner, der vom Blindenhund zum Treffen geführt wird. Ein Pärchen in Ledermontur fesselt sich zwischen Häuserruinen zu devoten Sexspielen auf einem Motorrad. Der knapp zehnminütige Kurzfilm von Porno-Regisseurin Marit Östberg zum Track „Full Of Fire“ hat bereits Ende Januar 2013 erahnen lassen, was das neue Album „Shaking The Habitual“ von The Knife bereit hält: „Darin sind Menschen zu sehen, die nach dem suchen, was für sie richtig ist. Sie finden Wege ihr Leben zu leben. Es klingt vielleicht etwas vage, aber das ist wichtig in einer Gesellschaft, in der hetero-normative Wege so sehr unterstützt werden.“, sagte Bandmitglied Olof Dreijer jüngst dazu in einem Interview mit „Electronic Beats„. Er und seine Schwester Karin Dreijer Andersson hatten schon bei den drei Vorgängern mit queeren Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Grenzüberschreitungen gespielt, aber 2013 klingt alles noch konfuser, härter und unberechenbarer. Wollen The Knife mit Musik gesellschaftliche Normen abschaffen?

Fitzeliges und großspuriges Chaos

Sieben Jahre ist das letzte Album „Silent Shout“ mit seinen großzügigen poppigen und tanzbaren Tracks alt, die man auch zum Frühstück oder im Auto hören kann. Lässt sich das neue Album „Shaking The Habitual“ auch bei solchen Gelegenheiten aushalten? Schwer zu sagen, denn einprägsame Melodien sind passé. Schon die Länge der einzelnen Stücke, die zwischen ein und zwanzig Minuten liegt, deutet an, dass es sich nicht um leicht verdauliche Popkost handelt. Das Album ist kein musikalischer Leckerbissen, keine einprägsame, stilistische Schönheit. Es sucht nicht nach einstudierten Effekten, sondern nach überraschenden Höhepunkten im fitzeligen, wie großspurigen Chaos, angesiedelt zwischen Ambient, Drone, Krautrock, orientalischen Anleihen und Acid. Selten wilderte eine Band in so vielen verschiedenen musikalischen Gefilden. Ist das elektronischer Punk? Ja, zum Teil aber auf Kosten der Hörbarkeit.

Protest zwischen knarzenden Krautrock und zirpenden Drones

Mit „A Tooth For An Eye“ beginnt das Album mit messerscharfer Polyrhythmik. Es ist eines der wenigen tanzbaren Stücke des Albums. Danach überwältigt das ausufernde „Full Of Fire“. Der Track schnauft und prustet wie ein Roboter, der gerade versehentlich in die Steckdose gefasst hat. Alles blinkt und raucht, und dennoch verlieren The Knife niemals die Kontrolle über dieses quietschende, verspulte Brett mit seinen tranceartigen Beat-Trümmern. Das folgende „A Cherry On Top“ klingt nach einer sehr langen Jam-Session im Studio. In knapp neun Minuten quillt ein kratzig-schmutziger Soundbrei aus den Boxen, durchzogen von verzehrten Gesängen und den Klängen gezupfter Klaviersaiten. Eine schwierige Angelegenheit beim Zuhören, denn jegliche Merkmale eines herkömmlichen Songs sind nicht aufzufinden – wie bei fast allen der anderen Tracks. Mal geht es wie bei „Wrap Your Arms Around Me“ in Richtung knarzendem Krautrock, oder es zirpt und dröhnt wie bei „Old Dreams Waiting to Be Realized“ rund zwanzig Minuten lang vor sich hin. Die Ideen könnten unterschiedlicher nicht sein, und gerade das gereicht dem Album an manchen Stellen zum Nachteil. Bei „Raging Lung“ zerfasert der Klangfaden in belangloses Geplänkel: die anarchistische Klangwut, das rebellische Zerren mit den Tönen sind mit einem Mal fort. Doch die Momente bleiben eher Ausnahmen. Bei „Networking“ knallen die schrägen und nervösen Synthies kraftvoll und ausdauernd wie in einer Popcornmaschine hin und her – mit tief hängender Jogginghose möchte man mit ausgestreckten Armen den psychedelischen Beat in die Luft stechen. Wie ein wildgewordener, wuschiger Kater schlängelt sich Karins verzerrte Stimme bei „Stay Out Here“ durch ein Klangbett im 4/4-Takt. In der Mitte des Songs wird es schmerzhaft schief, und doch klingt diese Ode an das Anderssein und Anderstanzen betörend schön. Er beweist, dass das schwedische Duo bei all dem experimentellen Geklöppel immer noch funktionierende Popsongs schreiben kann.

Presse Foto The Knife (von Alexa Vachon)

Ein Tick zu viel Anarchie

„Shaking The Habitual“ ist streng genommen gar kein Album. Es ist ein Sammelsurium an Fragmenten an akustischen, animalischen und synthetischen Sounds, mit der The Knife eindrucksvoll und unentwegt ihren Idealismus in Musik verpacken. Hinter allem experimentellem Wirrwarr und der Protesthaltung steht eine tiefgründige Sehnsucht nach freier Entfaltung und zwar ungehindert von gesellschaftlichen Normen. „Ich denke, es ist eine interessante Frage, wie Musik heutzutage Protestmusik sein kann.“, sagte Karin. „Shaking The Habitual“ ist die Antwort von The Knife darauf, aber mit einem Tick zu viel Anarchie im Bauch.


Tracklist:

  1. A Tooth For An Eye
  2. Full Of Fire
  3. A Cherry On Top
  4. Without You My Life Would Be Boring
  5. Wrap Your Arms Around Me
  6. Crake
  7. Old Dreams Waiting to Be Realized
  8. Raging Lung
  9. Networking
  10. Oryx
  11. Stay Out Here
  12. Fracking Fluid Injection
  13. Ready To Lose

(Rabid Records)

(Foto: von Alexa Vachon)