Paul Kalkbrenner – mit „Berlin Calling“ hat der Mann seinen Mythos in die Welt getragen: kraftvoll und lautstark. Mit einem Doppelgestirn aus schauspielerischer Leistung und kompositorischer Authentizität. Außerdem: Als Doppelpitze mit seinem Bruder Fritz. Der Soundtrack bewegte sich zwischen raviger Club-Elektrisierung und melancholischer Post-Exzess-Tristesse. Und brachte ganz nebenbei alles mögliche auf den Punkt: Das Lebensgefühl einer Generation, die sich nicht mehr für Techno schämen wollte, die Verlorenheit des Individuums im Nachtleben des neuen Milleniums, die Rolle, die der Sound als die nicht unbedingt harmloseste der Drogen in diesem Zirkus spielte. Und irgendwie schien es in seiner Gesamtheit über dieses Bild hinaus gültig zu sein.
2011 kam das vorletzte Album. Es war die Generalprobe. Und jetzt? Wo man „Icke wieder“ vielleicht noch wohlwollend für einen kurzen Moment der Schwäche hielt, fällt das bei „Guten Tag“ schon richtig schwer. Alles fängt mit einer Synthesizer-Fläche an. Die könnte auch aus den 90er Jahren stammen und das ist ja auch nicht unbedingt verkehrt. Aber es schraubt die Erwartung hoch für das, was kommt. Und „Die Stabsvörnern“ heizen das mit der ersten Minute auch noch weiter an. Aber schnell stellt sich Ernüchterung ein: Da verändert sich zu wenig, die Kickdrum verschwindet mal kurz, es kommt ein raviger Synthesizer-Lead ins Spiel, der sich eigentlich hören lassen kann. Aber es wird keine kritische Schwungmasse erreicht. Das liegt nicht zuletzt auch an den Beats, die schnurgerade, fast wie auf einer Schiene laufen. Richtig schön zackig, aber ohne Drive, ohne Dramaturgie – und deswegen seltsam lasch, auf theoretisch hohem Energieniveau. Da ist nichts mehr übrig von der wunderbaren Ungeradheit, die damals „Berlin Calling“ wohltuend von der Masse der Techno-Produktionen unterschied.
„Kernspalte“ ist eine interessante Miniatur: Ohne Beat produziert, zappelt sie schräg-fröhlich herum und verströmt dabei eine Menge durchgeknallten Rave-Charme. Der Titel steht als einzig herausragender Vertreter für insgesamt fünf sehr kurze Tracks, die ansonsten seltsam nichtssagend bleiben. Es wirkt, als hätte jemand Füllmaterial gesucht, oder aus Versehen ein paar Ideenschnipsel mit eingepackt kurz bevor der Hausmüll rausgetragen wurde – weil das Album so richtig schön voll werden sollte.
„Das Gezabel“ funktioniert noch am besten. Es vereint eine „Berlin Calling“-artige Melodie mit etwas einfachen, aber schön upliftenden Ibiza-Party Beats und rockt sicher ganz gut auf dem Dancefloor. Es hat mit „Der Buhold“ einen ähnlich aufgebauten, aber nicht so gut funktionierenden Track an seiner Seite. Hypnotisch und auch schön druckvoll ist „Hinrich zur See“. „Der Ast-Spink“ ist ihm irgendwie ähnlich, aber bei beiden ist, so wie auf der Platte insgesamt, das Arrangement zu einfach gestrickt. Es ist schade: Insgesamt macht das hier einen lieb- und lustlosen Eindruck.
Woran liegt das? Vielleicht ist es der Erfolg. Es läuft ja auch gut, so wie es ist: Die Leute strömen in Massen zu seinen Gigs, die Gagen sind enorm, das Geschäft brummt. Neuerdings darf sich Paule auch in der Die Zeit und bei „titel, thesen, temperamente“ verbreiten. Die Marke Kalkbrenner funktioniert im Massenmarkt und auch Brüderchen Fritz hat eben ein erfolgreiches Album vorgelegt. Minimal bedeutet aber gerade nicht, dass man sich weniger Mühe machen muss. Das glatte Gegenteil ist der Fall: Je weniger da ist, desto genauer muss alles sitzen. Und trotzdem – oder gerade deswegen: Ein Gutes Neues Jahr.
Hier kann man sich das Album anhören:
Tracklist:
- Schnurbi
- Der Stabsvörnern
- Kernspalte
- Spitz-Auge
- Globale Gehung
- Das Gezabel
- Vörnern-Anwärter
- Hinrich zur See
- Der Buhold
- Speiseberndchen
- Fochleise-Kassette
- Trummerung
- Datenzwerg
- Schwer Verbindlich
- Der Ast-Spink
- Bieres Meuse
- Das Gezabel de Luxe