Die Bundesregierung löscht die Schlussfolgerungen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht, den Wissenschaftler in ihrem Auftrag aus statistischen Daten zusammengestellt haben. Im Vergleich zur ersten Fassung vom September fehlt nun der Satz: „Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt“. Gestrichen wurde auch, dass 2010 über vier Millionen Menschen in Deutschland für einen Bruttolohn von weniger als sieben Euro die Stunde gearbeitet haben. Die Feststellung, dass hohe Einkommen weiter steigen, während die Löhne im unteren Bereich sinken, sucht man ebenso vergebens wie Aussagen zum verletzten Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und zur Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Doch bereits die uneditierte September-Fassung des Berichts verharmlost die soziale Lage in Deutschland, sagt uns einer der Wissenschaftler Dr. Markus M. Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), der am Bericht mitgeschrieben hat. Er kennt die Daten, auf denen der Bericht basiert und weiß, wie die zustande kommen.
Agata Waleczek: Herr Dr. Grabka, was halten Sie von den neuesten Änderungen am Armutsbericht?
Dr. Markus M. Grabka: Bislang liegt dem Gutachterkreis zum Armuts- und Reichtumsbericht nur ein offizieller Entwurf vor. In den Medien kursierte aber bereits eine Version aus dem September, die nicht mit allen beteiligten Bundesressorts abgestimmt war. Daher ist es wenig überraschend, dass Formulierungen verändert und Textpassagen gestrichen wurden.
Eine der Kernaussagen des Berichts war: Den reichsten zehn Prozent der Deutschen gehört mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens, die untere Hälfte verfügt über gerade mal ein Prozent.
Das ist zwar ein wichtiges Ergebnis, aber nicht neu. Und diese Zahlen unterschätzen vermutlich das wahre Ausmaß der Vermögensungleichheit in Deutschland. In den Daten, die im Armuts- und Reichtumsbericht genutzt werden, ist das Betriebsvermögen gar nicht enthalten. Das meint: gerade das Vermögen von Unternehmerfamilien wie den Quandts, den Flicks oder den Krupps ist nicht berücksichtigt! Und das macht einen ganz wesentlichen Anteil am Gesamtvermögen aus. 53 Prozent, die auf die oberen zehn Prozent entfallen, sind also eine Unterschätzung. Unsere Analysen deuten darauf hin, dass es doch eher im Bereich von über 60 Prozent liegt.
Wie definieren Sie jemanden, der „arm“ ist in Deutschland?
Zum einen sind das Personen, die auf Sozialhilfe oder Grundsicherung angewiesen sind, das sind mehr als sieben Millionen. Im Armutsbericht wird aber auf eine alternative Definition zurückgegriffen. Arm sind Personen aus Haushalten, die über weniger als 850 Euro pro Monat verfügen, das sind 60 Prozent des mittleren Einkommens eines Haushalts in der Bundesrepublik. In diese Kategorie fallen ja auch viele Studierende. Unsere Analysen zeigen, dass viele junge Menschen relativ arm sind. Und das betrifft nicht nur Studenten, sondern auch Personen, die in einer beruflichen Ausbildung sind oder Praktika ausüben.
Und wann ist jemand „reich“?
Da gibt es keine überzeugende Definition. Im Bericht sind Personen „einkommensreich“, wenn sie mehr als das Doppelte des Durchschnitts verdienen. Das ist allerdings ein Einkommen, das ein Studienratsehepaar problemlos überspringt. Und Frau Lehrerin und Herrn Lehrer dann als „reich“ zu bezeichnen, halte ich für problematisch. Ich finde es angemessener, das Vermögen zu betrachten. Und „reich“ ist sicherlich eher eine Person, die über mehr als eine Million Euro verfügt.
Kann man aus dem Bericht schlussfolgern, dass die Reichen in Deutschland immer reicher werden und die Armen immer ärmer?
Da muss man unterscheiden, ob man die Vermögen betrachtet oder die Einkommen. Die Konzentration des Vermögens hat zugenommen. Bei den Einkommen ist das Bild etwas differenzierter. Nach fast einem Jahrzehnt, in dem die Schere zwischen Arm und Reich deutlich auseinanderging, sind in den letzten Jahren aufgrund der guten Arbeitsmarktzahlen erste Anzeichen für einen leichten Rückgang der Einkommensungleichheit zu beobachten.
Warum nimmt die Ungleichheit zu?
Das hat ganz viele Ursachen. Bei den Einkommen gibt es drei Hauptgründe. Erstens sind da demografische Trends: Es gibt immer mehr Ein-Personen-Haushalte. Und wenn Paare zusammenziehen, dann kommen die Partner zunehmend aus der gleichen sozialen Schicht. Also Arme ziehen mit anderen Armen zusammen und Leute mit gleichem Bildungsniveau ziehen zusammen. Zweitens ändert sich der Arbeitsmarkt: Immer mehr Menschen arbeiten zu niedrigen Löhnen. Oder sie sind nur angestellt als Leiharbeiter, auf Zeit oder in Teilzeit. Und drittens haben die Politiker durch Änderungen im Steuerrecht dafür gesorgt, dass seit 1998 diejenigen, die viel verdienen, durch die Absenkung des Spitzensteuersatzes überdurchschnittlich stark entlastet wurden.
Wir befinden uns ja in einer globalen Finanzkrise: Wie kann es sein, dass der Reichtum der Reichen da zunimmt?
Die Krise hat sich in Deutschland erfreulicherweise nur kurzfristig gezeigt. Sie wirkt sich eher in den südeuropäischen Ländern und Irland aus. Aber auch in einer Krise kann man Geld verdienen. Anleger konnten überdurchschnittliche Gewinne erzielen, wenn sie nur früh und geschickt genug in Schuldscheine investiert haben.
Apropos Gewinne: Ist der Bericht ein Beleg dafür, dass in unserem Wirtschaftssystem Gewinne privatisiert, Verluste aber sozialisiert werden?
Im Falle der Bankenkrise kann man das an einigen Stellen beobachten, zu denken ist hierbei zum Beispiel an die HypoRealEstate-Bank oder die IKB. Da wurde private Verschuldung vergesellschaftet, wenn Staaten mit Milliarden aus Steuergeldern faule Kredite retten. Darüber steht im Bericht jedoch eher wenig. Aber es wird darauf hingewiesen, dass sich das Geld auf privaten Konten in den letzten zwanzig Jahren in etwa verdoppelt hat und der öffentliche Reichtum – das Geld von Bund, Ländern und Gemeinden – deutlich abgenommen hat.
Es gibt Leute, die sagen, dass es die Reichen sind, die den Sozialstaat finanzieren. Die Bundeskanzlerin sagt, dass zehn Prozent der Wohlhabendsten immerhin 55 Prozent der Steuereinnahmen generieren.
Ja, aber das ist nur zum Teil richtig. Denn die direkten Einkommenssteuern sind ja nicht die einzigen Abgaben, die anfallen. Ab einem bestimmten Einkommen gilt die Beitragsbemessungsgrenze, ab dieser müssen reiche Personen keinen weiteren Beitrag mehr leisten. In der Krankenversicherung gilt zudem, dass sich reiche Personen quasi freikaufen können und in die private Krankenversicherung zu deutlich besseren Konditionen wechseln können.
Also den Reichen nehmen und den Armen geben?
Vorsicht. Deutschland ist im internationalen Vergleich eines der Länder, in denen am meisten umverteilt wird. Das Problem ist, dass die Zielgenauigkeit fehlt. Da hat Deutschland erheblichen Nachholbedarf. Die letzte Kindergelderhöhung zum Beispiel hat dazu geführt, dass ein Kind in der Mittelschicht 10 Euro mehr bekommen hat. Schön und gut. Bei einem Kind von Hartz-IV-Empfängern wird dieses zusätzliche Geld auf die Sozialleistungen angerechnet. Also kommen null Cent zusätzlich bei den Menschen an. Nehmen wir dann zum Vergleich den Millionärshaushalt: Aufgrund des Kinderfreibetrags, der alternativ zum Kindergeld gewährt wird, wird das Millionärskind dagegen mit einem dreistelligen Betrag gefördert.
Das klingt ganz schön unfair.
Die Frage ist doch: Warum ist ein Kind im Millionärshaushalt fiskalisch gesehen mehr wert als ein Kind aus einem Hartz-IV-Haushalt oder aus der Mittelschicht?
Wird die soziale Spaltung das Land zerreißen?
Gute Frage. Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen sehr ausdauernd oder leidensfähig sind. Bis zur Mitte des letzten Jahrzehnts hat die Ungleichheit der Einkommen rapide zugenommen – besonders im internationalen Vergleich. Dennoch befindet sich Deutschland in puncto Ungleichheit von Arm und Reich im internationalen Vergleich immer noch im Mittelfeld. Nach oben hin ist leider noch viel Luft. Dennoch erwarte ich keine Aufstände der Armen.
Wo in Europa ist es denn schlimmer?
In Griechenland, in Spanien, in Portugal und in Irland. Gerade in den Ländern, die mit der Eurokrise am stärksten zu kämpfen haben, wirkt sich die Krise auf die Ungleichheit aus und führt zu sozialen Härten.
Welche Konsequenzen sollten aus dem Bericht gezogen werden?
Vor allem allein erziehende Eltern haben ein hohes Armutsrisiko. Mehr als 40 Prozent der Kinder von ihnen wachsen in Armut auf. Das deutet darauf hin, dass Familie und Beruf schwer zu vereinbaren sind. Ich bin der Meinung, dass da noch etwas getan werden muss: vor allem der Ausbau von Einrichtungen zur Kinderbetreuung muss weiter vorangetrieben werden, um diesen Kindern bessere Startchancen zu geben.