„Motorsäge?“ So oder ähnlich verwirrend haben sich Studio Braun früher am Telefon gemeldet, wenn sie ahnungslose Norddeutsche an der Leitung hatten. Zum Beispiel, wenn sie inserierten, dass sie etwas zu verkaufen hätten – eine Dunstabzugshaube etwa oder eben eine Motorsäge, die aber leider „in den Honigtopf gefallen“ war -, wenn der liebe Gott ein Abendessen springen ließ oder der Weihnachtsmann sich wegen einer Crack-Psychose krank melden wollte. Fünf CDs mit absurden Telefonaten sind zwischen 1998 und 2004 entstanden, sie haben das Hamburger Trio berühmt gemacht.
Derzeit sind Studio Braun allerdings als Fraktus unterwegs, als fiktive, wiedervereinigte Elektro-Band aus den 1980ern, die es noch einmal wissen will. Über ihre kleine Clubtour ist viel geschrieben worden, der pseudo-dokumentarische „Fraktus“-Film hat es bis in die Tagesschau geschafft. Der Sprung von anarchischen Telefonstreichen zu einem musikalischen Bühnenprojekt ist für das Trio allerdings kleiner, als man jetzt denken könnte. Jacques Palminger, Rocko Schamoni und Heinz Strunk waren schon immer vielfältig tätig, als Theatermacher, Bestsellerautoren, Radio- und Fernsehmoderatoren und Filmdarsteller, um nur einen Teil zu nennen. Hinzu kommen diverse (durchaus ernsthaft verfolgte) musikalische Soloprojekte, bei denen linksintellektueller Schlager (Schamoni) sowie Jazz und Dub-Reggae mit psychedelischem Sprechgesang (Palminger) herauskamen. Die drei Herren wissen also, was sie da tun.
Um nun endlich den Bogen zu Fraktus zu schlagen, bedarf es noch eines letzten Mosaiksteinchens: der vereinzelten Studio-Braun-Musiktracks, die teilweise auf den alten Telefon-CDs, teilweise an anderen Stellen zu finden waren. Elektronische, vollkommen verspulte Stücke wie „Babuschka“, „Fick dich, Henry Maske“, „Computerfreak“ oder „Joy“ (in welchem sich das Fraktus-Thema bereits abzeichnete) wiesen schon lange in die Richtung, die das aktuelle Projekt nun eingeschlagen hat. Allerdings – und das ist neu im Werk von Studio Braun – wurde die musikalische Energie in das Korsett der erfundenen „Fraktus“-Rahmenhandlung gezwängt und damit eines Teils ihrer Wirkung beraubt.
Die Stücke auf „Millennium Edition“ hätten nämlich auch ohne den aufgedrückten 80er-Stil funktioniert. Das typisch Braunsche ist im Kern immer da: spackige Synthiemusik, die klingt, als sei sie auf dem alten Desktop-Rechner im Hobbykeller arrangiert worden (obwohl sie in Wirklichkeit von Erobique kommt), schlaue Nonsens-Poesie und eine verschrobene Vortragshaltung, der egal ist, wer da unten vor der Bühne sowieso wieder nicht tanzt. Woran aber der Film krankt, macht sich auch auf dem Album bemerkbar: Schamoni, Strunk und Palminger sind immer dann am besten, wenn sie völlig frei abgehen können. Und das kommt viel zu selten vor, wenn auf Teufel komm raus eine Geschichte erzählt werden muss.
Ja, das Styling ist lustig, und ja, die Texte von Fraktus sind gut getroffene Parodien auf die „Computerästhetik“ und den politischen Anspruch der Neuen Deutschen Welle. Parolen wie „Geschlossene Gesellschaft! Keiner kommt raus!“ („Supergau“) oder „Bombenalarm – bitte antworten Sie mit Stern“ treffen genau ins Schwarze, wenn dazu ein Sample der Telekom-Melodie oder des Mayday-Hits „Sonic Empire“ erklingen (die im Film ursprünglich von Fraktus stammen, is klar). Auch ein schmalziges Vocoder-Duett zwischen zwei verliebten Computern darf nicht fehlen, ebenso wenig wie der fiktive Superhit, der bei genauer Betrachtung natürlich völliger Quatsch ist („Affe sucht Liebe“). Dazu passen die „ulkigen“ Tracknamen („Kleidersammlung“, „Jagt den Fuchs“, etc.) und der clevere Albumtitel, der das damals schon uncoole „Millennium“ nach 12 Jahren endlich auf den Retro-Thron hievt.
Alles in allem ist das sehr durchdacht und so verkopft, wie es den 80ern angemessen ist, lässt dadurch aber zu wenig Raum für Improvisation. Schamoni als Sänger etwa spielt seine Rolle zu gut, wird zu sehr Filmfigur, ist nicht mehr Studio Braun. Palmingers Texte sind zu stringent, zu wenig bekloppt, zu sehr Auftragsarbeit. Und Heinz Strunk tritt, anders als im Film, auf dem Album nur als Instrumentalist in Erscheinung – und zwar an der Querflöte. Mit dieser Idee allerdings bringt er doch einen Schuss Braunes zu Fraktus, denn seine Flöten-Improvisation in der Bridge von „Supergau“ ist genau die Art von Stilbruch, von der das Projekt mehr gebraucht hätte. Free Jazz auf einem Bett aus 4/4-Takt und Eurodance-Synthies – das passt zwar nicht in die 80er, aber erstaunlich gut zusammen und sollte ruhig auch mal von anderen probiert werden. Ein ähnliches Highlight steht ganz am Ende des Albums, fast schon wie ein Bonustrack: „Horse Of Fantasy“ ist ein instrumentaler Fünfminüter, völlig schräg und verquer und deswegen zeitlos brillant. Auch hier spielt Strunk einen Flötenpart, ein lustige Melodie inmitten einer Collage aus Pferde- und Menschenstimmen, dissonanten Akkorden und depressiven Beats. Herrlich. Und bezeichnend, dass auch das stilistisch aus dem Album heraussticht.
Weniger Konzepttreue wäre also mehr gewesen – doch Studio Braun wollten offenbar das große Publikum für ihr über Jahre entwickeltes „Fraktus“-Projekt, und dafür braucht es einen nachvollziehbaren popkulturellen Zugang. Ein experimenteller Musikfilm ohne Drehbuch oder Schauspielanstrengung war ihnen da wohl zu gewagt, sie sind ja nicht Helge Schneider. Rein zufällig erscheint neben „Millennium Edition“ übrigens auch ein Best-Of-Album der eingangs erwähnten Telefonate („Braunes Gold“). Soll man es ihnen verübeln? Die alten Fans können sich ja über den studiobraunen Kern in Fraktus freuen, die neuen Fans entdecken vielleicht auch die „Motorsäge“ für sich. Und Anarcho gibt’s dann halt wieder beim nächsten Mal.
(Nachbemerkung: Dem Cover und manchen Quellen entsprechend müsste das Album eigentlich „Automate – Millennium Edition“ heißen, aber das „Automate“ geht selbst auf der Fraktus-Webseite unter, sodass die bloße „Millennium Edition“ nun der offizielle Titel zu sein scheint.)
Preview:
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Tracklist:
- All die armen Menschen
- Kleidersammlung
- Pogomania
- Affe sucht Liebe
- Mann
- Lady Godiva
- Bombenalarm
- Jagt den Fuchs
- Supergau
- Untergrund
- Computerliebe
- Affe sucht Liebe (Alex Christensen Mix)
- Horses Of Fantasy