Ab an den Rand

Quelle: Johanna Treblin

Neukölln ist schon lange nicht mehr Notnagel und auch längst kein Geheimtipp mehr unter Neuberlinern. Die Schlangen auf der Straße bei Wohnungsbesichtigungen werden länger, und das, obwohl die Mietpreise angezogen haben. Laut aktuellem Immobilienpreisservice des Immobilienverbands Deutschland sind in Berlin die Mieten in Neukölln und Kreuzberg am stärksten gestiegen: In Neukölln kosten die teuersten Wohnungen um 40 Prozent, in Kreuzberg um 20 Prozent mehr als noch 2011. Wohnungssuchende berichten in Einzelfällen von Preissteigerungen bei Neuvermietungen in Kreuzberg südlich des Landwehrkanals um 80 Prozent.

Wer ist Schuld? Die Münchener, Schwaben und Hamburger, die es gewohnt sind, 400 Euro für ein WG-Zimmer zu zahlen oder 600 Euro für eine Einzimmerwohnung? Die Spanier, die vor der Wirtschaftskrise im eigenen Land fliehen oder hier Party machen? Die Berliner selbst, die Zweitwohnungen an Hauptstadtbesucher teuer untervermieten?

In einer Workshopreihe zum Thema „Touristifizierung“ will die Gruppe „Kritische Geographie“ diese Fragen näher beleuchten. Dem in Berlin beliebten „Touristen-Bashing“ wollen Thomas Bürk, Fabian Brettel und ihre Mitstreiter Zahlen und Fakten entgegensetzen und die tatsächlichen Ursachen für die steigenden Mieten herausfinden. „Es geht um die immer wieder behauptete Aufwertung verschiedener Stadtviertel Berlins, also vor allem Neuköllns und des sogenannten Kreuzkölln“, sagt Bürk.

„Touristifizierung“ verdeutlicht dabei den Zusammenhang zwischen Tourismus und Gentrifizierung als Prozess, nicht als Zustand. „Wir schauen uns an, wie eine Stadt symbolisch, ökonomisch, kulturell in Wert gesetzt wird.“ Die ökonomische Inwertsetzung bezieht sich dabei auf die steigenden Immobilienpreise, die symbolische auf das Phänomen, dass immer mehr Menschen Berlin als cool empfinden, und die kulturelle unter anderem auf die Aufwertung der kreativen Klasse der Stadt.

Touristen sollen die fehlende Kaufkraft der Berliner kompensieren

Berlin ist „arm aber sexy“. Der Spruch vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit trifft nach wie vor zu. Der kritische Geograph Thomas Bürk findet die Aussage dennoch blöd. Denn die Armut sei der große Nachteil der Stadt. Die Arbeitslosigkeit lag 2011 bei 13,3 Prozent, während der Bundesdurchschnitt im gleichen Zeitraum mit 7,1 Prozent bei nur etwas mehr als der Hälfte lag. Das bedeutet weniger Einnahmen für den Finanzsenator, gleichzeitig können sich die Menschen weniger leisten. „Das macht es für Leute sehr verlockend nach Berlin zu ziehen, weil man hier einfach für 1.000 Euro noch leben kann.“ Die Politik ver­sucht, die fehlende Kauf­kraft der Berliner zu kompensieren, indem sie Tou­ris­ten in die Haupt­stadt lockt. „Das neue Ber­lin braucht Tou­ris­ten, weil sie Geld brin­gen”, sagt Bürk.

Die Besucherzahlen sind laut Amt für Statistik in den vergangenen Jahren gestiegen. „Der Tourismus erweist sich zunehmend als wichtiger Wirtschaftsfaktor“, kommentiert Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer die Daten für den vergangenen August: Die Zahl der Übernachtungen lag bei 2,6 Millionen, die Bettenauslastung bei 66,6 Prozent. Es ist also noch Platz nach oben.

Das freut nicht alle Ber­li­ner. Spa­nier lär­men frühmorgens auf der Club­meile in der Schle­si­schen Straße in Kreuz­berg, junge Frauen feiern mit Trillerpfeifen ihre Junggesellinnenabschiede auf der Simon-Dach-Straße in Friedrichshain. In Bars in der Weserstraße in Neukölln sprechen die Kellner die Gäste auf Englisch an.

Schon wird der Ruf nach einer Kurtaxe laut. Die soll nicht nur die Touristen abkassieren, sondern auch die Zahl der Besucher reduzieren. Kreuzbergs Bürgermeister Franz Schulz will die Zahl neuer Hostels in seinem Bezirk einschränken, weil sie die Kommerzialisierung der Straße, in der sie stehen, vorantreiben und zum Lärmpegel beitragen. Schließlich sollen Vermieter davon abgehalten werden, Wohnungen zu Ferienwohnungen umzuwidmen, da der Wohnraum für Berliner knapper und damit teurer wird.

Getrolle gegen Touristen ist eine Form des „Unbehagens gegenüber Fremden“

Aber sind die wachsenden Touristenzahlen wirklich für die Mietsteigerungen verantwortlich? „Das ist ein komplett falscher Ansatz“, sagt Fabian Brettel von den „Kritischen Geographen“. Zum einen könne man an der Sprache oder an äußeren Merkmalen nicht festmachen, wie lange jemand mit welchen Zielen in Berlin bleibe und ob jemand Tourist sei oder hier einen langfristigen Wohnsitz habe. Das „Tourismus-Bashing“ ist für Brettel ein Zeichen für „dieses grundsätzlich bei vielen Leuten bestehende Unbehagen gegen das Fremde.“ Das koppele sich mit der Wahrnehmung, dass Teile Kreuzbergs und Neuköllns aufgewertet und die angestammten Mieter verdrängt werden. Dabei haben die Neuberliner und Berlinbesucher oft selbst keine andere Möglichkeit als Ferienwohnungen zu beziehen oder die teuren Mietpreise zu zahlen. „Sie haben ja keinen Zugang zu anderen günstigen Wohnungen“, sagt Bürk.

Quelle: Johanna Treblin

Geforscht wird in letzter Zeit viel in den Vierteln, in denen Gentrifizierung stattfindet, also beispielsweise im Norden Neuköllns oder rund um das Kottbusser Tor in Kreuzberg. Wenig erforscht ist hingegen das Schicksal der vertriebenen Bewohner. „Um eine Grundthese zu formulieren: die Verdrängung aus der Innenstadt heißt natürlich: ab an den Rand“, sagt Bürk.

Doch da wollen die Kreuzberger und Neuköllner, die sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten können, nicht hin. Bereits vor Mona­ten haben Mieter, die sich von Vertreibung bedroht sehen, am Kottbusser Tor ein Protestzelt aufgebaut. Bürk sieht genau darin eine Chance, dass sich das Blatt demnächst doch wieder wenden könnte. „Ich habe wenig Hoffnung, dass sich das Problem über eine von den Parteien diskutierte realpolitische Schiene lösen lässt.“ Stattdessen müsse eine starke soziale Bewegung einen so hohen Druck ausüben, dass unkonventionelle Lösungen gefunden und auch auf politischer Ebene ganz neue Fragen diskutiert werden – zum Beispiel die Enteignung von Häusern. „Die Politik muss merken, dass sie einlenken muss, wenn sie einfach wieder ihre Ruhe will.“ Brettel ergänzt: „Ich würd’s auf die Formel bringen: Die sozialen Bewegungen müssen Parteien vor sich hertreiben, anders kommen sie nicht aus’m Quark.“

Das BLN.FM-Interview mit Fabian Brettel und Thomas Bürk zum Nachhören:

http://soundcloud.com/bln-fm-im-fokus/im-fokus-kulturcheck-touristen