Nils Frahm – Screws

Der Pianist Rudolf Buchbinder, der als Beethoven-Koryphäe der Gegenwart betrachtet werden darf, machte in einem aktuellen Interview auf einen interessanten Punkt aufmerksam. Zunächst müsse man feststellen, dass Beethoven auf den noch nicht so weit entwickelten Klavieren seiner Zeit schon Stücke schrieb, die noch heute fast unspielbar sind. Es dränge sich also die Frage auf, was Ludwig van dann erst auf einem heutigen Konzertflügel hätte erschaffen können.

Wir werden es nie erfahren. Ebenso werden wir nie erfahren, wie die Klavierstücke auf dem aktuellen Album „Screws“ von Nils Frahm wohl geworden wären, wären sie für zehn Finger geschrieben statt für neun. Moment, neun Finger? Ja, denn infolge eines Sturzes vom Hochbett seines Tonstudios (Durton Studio) brach sich Frahm den Daumen, welcher mit Schrauben (daher der Albumtitel) und Gips fixiert werden musste. Ein absoluter Schicksalsschlag in der Biografie eines jeden Pianisten – und leider auch keine Seltenheit, wenn man einen Blick auf die Musikgeschichte wirft. Auch Schumann hatte sich einen Finger zerstört (wenn auch sicherlich aus anderen Gründen) und schließlich Stücke für neun Finger geschrieben. Im Barock wurde das Klavierspiel teilweise ganz ohne Beteiligung der Daumen gelehrt und einige Komponisten – u.a. Saint-Saëns, Brahms und Skrjabin – verzichteten in manchen Kompositionen sogar auf eine ganze Hand.

Man kann also mit allem, was einem die Natur zur Verfügung stellt, arbeiten. Das dachte sich auch Nils Frahm und setzte sich entgegen den Anordnungen seines Arztes ans Klavier. Er schrieb neun Stücke für jeweils neun Finger, die sich nahtlos an sein neoklassisches Repertoire anfügen. Wieder stehen das gedämpfte Klavier und die kristallklaren Melodien im Vordergrund. Der Virtuosität und Spielkraft des Albums „The Bells„, die er auf den Nachfolgern „Wintermusik“ und „Felt“ aufgab, um sie gegen atmosphärische Klangspielereien einzutauschen, kommt er nun wieder näher denn je. Das Klavier ist leiser, die Stücke verhaltener – das Gefühl allerdings, das sie hinterlassen, von umso größerer Wucht. Weniger ist mehr.

Es reicht, wenn Frahm sich auf die obere Hälfte der Klaviatur beschränkt, denn die schönen Dinge liegen ohnehin zwischen den Tönen. Sie liegen zum Beispiel in dem meditativen Klick-Klack der Holztasten, das stets mit ertönt. Sie liegen in einer perfekt gesetzten Pause oder einer makellosen Schlusskadenz. Bis hin zu den Bezeichnungen der neun Stücke zieht sich der Minimalismus von „Screws“, denn diese leitet Frahm ganz einfach aus den sieben Solmisationssilben ab. Die Ecksätze werden mit „You“ und „Me“ tituliert. Die Homogenität des Albums lässt ohnehin keine richtige Trennung zu – im Prinzip ist „Screws“ ein 28-minütiges Stück in neun Sätzen.

Auf vielen Ebenen ist „Screws“ sicherlich das Beste, was Nils Frahm jemals geschrieben hat. Nicht weil es etwas ist, das es zuvor niemals gegeben hätte oder in irgendeiner Form ein musikalisches Meisterwerk darstellt. Sondern weil er es besser denn je schafft, den Hörer in einen Zustand völliger Seligkeit zu versetzen. Letztlich geht es nicht darum, was Frahm spielt, sondern wie er etwas spielt, wie er eine Taste anfasst. Dazu reichen neun Finger; dazu würde auch ein einziger Finger reichen.

Preview:

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Tracklist:

  1. You
  2. Do
  3. Re
  4. Mi
  5. Fa
  6. So
  7. La
  8. Si
  9. Me

(Erased Tapes Records)