So war’s: Iceland Airwaves 2012

Iceland Airwaves 2012, Harpa / (C) Matthias Bauer für BLN.FM

Ausgerechnet im November nach Island zu fliegen, dürfte nicht für jeden nach einer guten Idee klingen. Die raue Insel, die näher an Grönland als an Kontinentaleuropa liegt, ist außerhalb ihres kurzen Sommers eher etwas für Kälteresistente. Oder für Freunde interessanter neuer Musik. Und genau um diese beiden Punkte geht es beim Iceland Airwaves Festival: Wer bereit ist, sich eisigen Winterstürmen zu stellen, wird mit einer unglaublichen Fülle an Konzerten belohnt.

In sieben Hauptlocations, zwei Sonderschauplätzen und unzähligen „Off-Venues“ (von Bars, Kneipen und Clubs über Plattenläden und Kinos bis zu Hotelfoyers und öffentlichen Räumen) gab es an fünf Festivaltagen über 500 Performances zu sehen, davon etwa drei Viertel von isländischen und ein Viertel von internationalen Künstlern. Mit seinem Bändchen konnte sich der Besucher durch die beschauliche Reykjavíker Innenstadt treiben lassen, mal hier und mal dort ein (seit der Krise nicht mehr ganz so teures) Bier trinken und entdecken, was der Norden zu bieten hat. Leicht erschwert wurde der Ortswechsel dabei von einem laut Einheimischen „ganz normalen Herbststurm“, der Böen mit bis zu 100 km/h durch die Stadt und selbst kräftige Passanten immer wieder vom Bürgersteig fegte.

Da selbst der umtriebigste und windabweisendste Besucher nicht alles sehen kann und das Festival keine Genregrenzen kennt, richten wir den Fokus auf einige Highlights der elektronischen Sparte.

Mittwoch, 31. Oktober

Eine ausgezeichnete Plattform zum Entdecken der vitalen nordischen Elektro-Kultur ist der zweistöckige Club „Faktorý“. Da auch in Island die Krise durch Wachstum überwunden werden und sich dieses Wachstum in neuen Hotels und Shoppingparadiesen äußern soll, ist das alternative Kulturgelände vom Abriss bedroht, auf dem sich neben dem „Faktorý“ auch ein Skatepark befindet. Daher gilt der Club als letzte Bastion gegen die Gentrifizierung der Innenstadt. Am ersten Festivalabend präsentierte die Partyreihe „Extreme Chill“ dort eiskalte Musik der dichten Atmosphären und langsamen Tempi. Vielversprechendes Highlight waren Samaris, zwei blutjunge, zierliche Isländerinnen, die mal wie Fever Ray sangen, mal wie (natürlich) Björk. Kostümiert als eine Art Sumpfelfen, machten sie mystische Musik mit Klarinette und verhallten Vocals. Dazu gab es stimmige, tief dröhnende Beats vom Drummer aus dem Hintergrund (der angeblich auch mit zig anderen Bands auftritt, wie das halt so ist in Island).

Donnerstag, 1. November

Im windgepeitschten freien Feld gelegen war das „Nordic House“, ein Kulturzentrum, das nur wenige für den intimen Auftritt von Ólafur Arnalds erreichten, der am Folgetag noch einmal vor größerem Publikum spielte. Deutlich voller war das „Reykjavík Art Museum“, das sein Hauptprogramm mit den viel bejubelten Samaris (den Elfen vom Vortag) eröffnete, laut eigenem Bekunden deren bisher größter Auftritt. Es folgte die einheimische Dream-Pop-Folk-Pianistin sóley, die ihre melancholische Klangwelt selbst „so tanzbar wie eine Beerdigung“ fand, was aber recht gut ankam. Die verträumten Live-Visuals hierzu steuerte der irische Videokünstler Feel Good Lost bei.

Musikalisch ähnlich, aber etwas schneller ging es weiter mit Purity Ring, die als Ersatz für Poliça spielten. Eine Mischung aus Gold Panda und iamamiwhoami war das, mit hübschem Lichtdesign und (dank Lakritzwodkas) aufgekratzter Stimmung im Publikum. Danach ging es zurück in den Sturm, und die Menge verteilte sich auf die kleineren Bars im Zentrum.

Freitag, 2. November

Der Freitag stand im Zeichen der „Harpa“, des neuen, ultramodernen Konzerthauses, dessen Fassade vom in Berlin lebenden Künstler Ólafur Eliasson gestaltet wurde. Dort spielte Ólafur Arnalds nun ein dezent inszeniertes und sehr sympathisches Set – in einem mittelgroßen Konzertsaal, dessen Name „Nordlicht“ bedeutet und der entsprechend stimmungsvoll beleuchtet war. Arnalds loopte das Publikum, verzerrte seinen Kollegen an der Geige, machte ein paar flapsige Kommentare und gewann die bunt gemischte Zuschauermenge schnell für sich. Dabei war sein Konzert so leise, dass man die Jacken rascheln hören konnte – und dass der Künstler die Fotografen bitten musste, während der ruhigen Parts keine Kamerageräusche zu machen.

Deutlich raubeiniger ging es an jenem Abend in der „Faktorý“ zu, denn dort standen Techno und Deep House auf dem Programm. Während im Erdgeschoss Trance und Drill ’n‘ Bass von DJs mit Namen wie Nuke Dukem, Hazar und Thor kamen, brachten im vollgepackten, stickigen Obergeschoss experimentelle Elektrobands die Menge zum Kochen, etwa die Österreicher von Elektro Guzzi mit ihrem live gespielten Instrumental-Techno oder die ernsthaften Finnen von Bendagram.

Überraschung des Abends (obwohl BLN.FM sie längst kennt) waren allerdings Captain Fufanu, zwei 20-jährige Isländer, deren helle, blonde Milchgesichter aussahen, als seien sie zu zerbrechlich für die Welt. Nachdem sie brav ihr Equipment aufgebaut hatten, begann jedoch eine Metamorphose: Sänger Kaktus‘ Augen ergriff ein irrer Blick, sein Kollege Gulli fuhr einen straighten, harten 4/4-Housebeat ab, der das ganze Set über bestehen blieb. In diesen Beat schossen sie Drones, düstere Synthies, verzerrte Trompeten und Gitarren (natürlich live gespielt) und anderes wirres Zeug ab – scheinbar improvisiert, mit gespielter (?) Erregung im Blick und dem Wahnsinn verschrieben. Übergänge waren egal, Hauptsache in die Fresse.

http://soundcloud.com/captainfufanu/extreme-chill-hellissandur

Mit Gus-Gus-hafter Attitüde griff Kaktus hin und wieder zum Mikro und rief Parolen wie im Rausch, meist auf isländisch; gegen Ende kam noch ein dunkelhaariger, bärtiger Sänger hinzu und skandierte mit den immer auf Männlichkeit bedachten Isländern im Chor: „I used to have a pussy, now I have a gun“ – schön. Es war, als entdecke man plötzlich, dass der kleine Bruder erwachsen geworden ist, komische neue Freunde hat und Drogen ausprobiert. Die kleine Menge aus hauptsächlich Einheimischen tobte und begoss sich mit Wodka-Energy-Mische. Als dann noch überdimensionale Securities auftauchten, die aussahen wie Bilderbuch-Wikinger, wusste man, warum es sich lohnt, zum Tanzen in den Norden zu fahren.

Samstag, 3. November

Iceland Airwaves 2012, Hlemmur / (C) Matthias Bauer für BLN.FMDer Samstag begann am „Hlemmur“, dem zentralen Busbahnhof Reykjavíks. Dem kleinen Gebäude wurde im Jahr 2002 eine von Sigur Rós musikalisch begleitete Dokumentation gewidmet, die das Leben der isländischen Obdachlosen zeigte (ja, die gibt es). Es waren auf jeden Fall einige jener „Stammgäste“ vor Ort, als Asonat, Futuregrapher, DJ AnDre, Beatmakin Troopa und Tonik (allesamt Isländer) über mehrere Nachmittagsstunden House und spacigen Drum ’n‘ Bass auflegten – und die Alten ertrugen die ungewohnten Klänge mit gleichgültiger Ruhe.

Iceland Airwaves 2012, Frikirkja / (C) Matthias Bauer für BLN.FMEin bisschen obdachlos fühlten sich auch jene, die bereits eine Stunde (!) im eisigen Sturm vor der „Fríkirkja“ gewartet hatten, als sich endlich deren Türen öffneten. Im schönen Kirchenschiff führten Brian-Eno-Schüler Ben Frost und Komponist Daníel Bjarnason ihr Werk „Solaris“ auf, für präpariertes Piano, Streicher, Percussions und natürlich Laptop. Etwas einschläfernd wirkten sie zwar schon, die sehr langsamen, gleichförmigen Sätze, doch dank der guten Akustik und der exzellenten Soundanlage genoss das Publikum einen perfekten Klang in wärmendem Beisammensein (von dem übrigens auch das nachfolgende Konzert der wunderbaren Daughter profitierte).

Während anschließend im benachbarten, etwas edleren „Iðnó“ die in ihrer Muttersprache singende Folk-Musikerin Ólöf Arnalds begeisterte, bereitete sich das Konzerthaus „Harpa“ auf den letzten großen Ansturm vor. Dank des Wochenendes mischte sich deutlich mehr einheimisches „Partyvolk“ unter das Festivalpublikum und vergoss sehr viel Bier in dem an Klassik gewöhnten Gebäude; die Indiepop-Lokalmatadore von Retro Stefson hatten bereits ordentlich eingeheizt. Stark vorgeglüht und aufgekratzt explodierte die Menge dann bei Gus Gus, den letzten Headlinern im großen „Harpa“-Saal namens „Schwefelberg“, und ergoss sich anschließend lautstark in die erstaunlich milde, klare Nacht.

Sonntag, 4. November

Der letzte Festivaltag war eher von (in Island auch sehr beliebtem) Indierock und Metal geprägt, da nur noch die drei gitarrenlastigen Hauptlocations reguläres Programm anboten (die rustikale, an das „Wiener Blut“ in Kreuzberg erinnernde „Þýski Barinn / Deutsche Bar“, der Pub „Amsterdam“ und die Metal-Höhle „Gamli Gaukurinn“). Kein Wunder allerdings – spielten doch Sigur Rós in einer großräumigen, etwas außerhalb gelegenen Sportarena. Es wäre wohl müßig gewesen, dagegen viel Konkurrenz zu programmieren, obwohl man für dieses zentrale Ereignis spezielle Zusatztickets kaufen musste (es gab erstaunlicherweise auch welche für Kinder unter 14 Jahren).

Die Besucherschlange führte schon mehrmals um den Parkplatz der „Laugardalshöll“, als um 18 Uhr die Türen geöffnet wurden. Bis zur offiziellen Startzeit um 19 Uhr hatte alles reibungslos und wieselflink geklappt, und eine stattliche Menge freute sich darauf, die Über-Isländer in ihrer Heimat zu erleben. Aus Gründen falsch verstandener Dramaturgie musste sie allerdings eine weitere Stunde stehend warten, bis es endlich losging, und dabei düstere Einstimmungsmusik anhören. Sehr ärgerlich war diese unnötig verbrannte Energie vor allem für diejenigen, die schon das ganze Festival mitgemacht hatten. Mit über zwei Stunden Länge erreichte das Abschlusskonzert des Iceland Airwaves Festivals 2012 dann auch die Schmerzgrenze des erschöpften Publikums.

Geboten haben Sigur Rós dafür eine perfekte Show, inklusive neuer 180-Grad-Projektionswand, mehrschichtigem Gazevorhang für mysteriösen Anfangsnebel und (jawohl) Lasertechnik. Musikalisch war es ein Best Of, es reihte sich Hit an Hit in einem bis ins Detail orchestriertem Gesamtkunstwerk. Geradezu filmreif war das, präzise eingeübt jeder Paukenschlag, jedes Glühbirnenflackern. Da ihr Auftritt in Reykjavík die Generalprobe für die anstehende Welttournee war, kann man davon ausgehen, dass sich Sigur Rós damit endgültig ein Denkmal setzen werden. Und das war genau das Problem: Das Ganze wirkte museal, zum Produkt erstarrt und mit ganz viel lustigem Feenstaub überzogen. Schwer vorzustellen, was nach diesem audiovisuellen Overkill noch kommen kann. Leicht amtsmüde applaudierte auch das bunt gemischte Publikum, geschwächt vom sinnlosen Herumstehen und geplättet von der Perfektion einer Band, die einst für das raue, ungebändigte Island stand.

Doch zum Glück gibt es Iceland Airwaves auch im kommenden Jahr – und damit die Gelegenheit, zu entdecken, wer aus dem Schatten der Altbekannten heraustreten will. Der Süden ist gespannt.